Im Zeitalter der Gutachter

■ Geld und Musik 1: Aufs Neue fällt die Stadt per externer Expertise über das Philharmonische Orchester mit willkürlichen Zahlenspielchen her. Denn wo begutachtet wird, kann man sich weiterhin vor längst fälligen Entscheidungen drücken

Als Klaus Pierwoß im Winter 1995 seinen ersten großen Fight mit der Kulturbehörde ausfocht, war der Präsident der Akademie der Darstellenden Künste, Günter Rühle, hier. Der mahnte eindringlich, dass eine Stadt, die sich Stadtstaat nennen will, es sich nicht erlauben kann, Institutionen wie Theater, Universität, Bibliotheken, Museen, kaputtzuschrumpfen. „In Berlin haben sie begriffen, was sie mit der Schließung des Schiller-theaters angerichtet haben“, sagte er damals. Auch so eine Einrichtung wie das inzwischen 175 Jahre alte Philharmonische Staatsorchester ist damit gemeint. Dieses führt seit Jahren einen entwürdigenden Dauerkampf um die angemessenen Stellen. Das Soll für ein A-Orches-ter – und die Philharmoniker können nur ein solches sein – ist 99 MusikerInnen (Hannover ist mit 111 Stellen besetzt!). Als vor drei Jahren das Gutachten von McKinsey vorlag, das Orchester in eine GmbH zu verwandeln – „das ist ein Freibrief zum Abschieben“, hieß es im Orchester –, waren es immerhin noch 79 Stellen. Die Aufstockung wurde behördlicherweise anhaltend versprochen und ebenso anhaltend mit den fadenscheinigsten Gründen verweigert.

Heute sind es nur noch 74 Stellen. Bestimmte Konzerte können nur noch mit so vielen Aushilfen realisiert werden, dass die ihrerseits ein kleines Orchester bilden: zwanzig im letzten Konzert. Zwei Gastdirigenten haben deswegen bereits mehr Proben verlangt, eins der Zeichen dafür, wie ernst die Sache ist. Im Zeitalter der Gutachten, in denen für teures Geld schlaue Sachen gesagt werden, die eigentlich der gesunde Menschenverstand selber weiß, gibt es nach MkKinsey nun ein neues Gutachten. Das sollte doch die neugegründete, viel gescholtene, stadteigene Controllingfirma kmb machen? Nein, die hatten entweder keine Zeit oder keine Kompetenz. Mindestens Letzteres ist angesichts des Ergebnisses unglaubwürdig. Denn die Firma Radermacher aus Berlin hat sich auf 120 Seiten fünf Szenarien ausgedacht, die beliebig wirken als seien sie am Pokertisch ausgewürfelt: Als Vorschlag 1 und 2 empfehlen sie eine Reduzierung der MusikerInnen auf 62. Die fehlenden Musiker sollen mit 35 Stellen der Kammerphilharmonie ausgeglichen werden. Bei Vorschlag 3 bekommt das Staatsorchester seine 87 Stellen, und die Kammerphilharmonie wird abgeschafft. Vorschlag 4: alles so lassen, wie es ist (74 Stellen Staatsorchester, 32 Kammerphilharmonie), aber DM 500.000,- zusätzlich bereitstellen, um die Aushilfen zu bezahlen. Und dann, Nr. 5, ganz toll: aufstocken auf 87 plus ein Geschäftsführer, Kammerphilharmonie bleibt bei 32, das kostet eine Millionen Mark.

Aus organisatorischen und aus künstlerischen Gründen sind die ersten vier Vorschläge vollkommen inkompetent und werden von beiden Orchestern strikt abgelehnt. Grundsätzlich ist schon mal fragwürdig, Überlegungen zum Staatsorchester mit der Existenz der Deutschen Kammerphilharmonie zu kombinieren. Die Kammerphilharmonie spielt über sechzig Prozent ihres Etats selbst ein, das bedeutet eine umfangreiche Reisetätigkeit, die es unmöglich machen würde, im Staatsorchester mitzuspielen. Das Staatsorchester spielt in unendlich vielen Diensten – so heißt ein Proben- oder Spieleinsatz – den laufenden Opernbetrieb, auch das verbietet schnelle, gar reisende Einsätze in der Deutschen Kammerphilharmonie. Die Kammerphilharmonie ist vor zehn Jahren mit einem Konzept nach Bremen gekommen, das auch künstlerisch eine Zusammenarbeit ausgeschlossen macht: Sie wählen sich je nach Literatur verschiedene Dirigenten. Und zu Nummer fünf: Muss man ein teurer Gutachter sein, um auszurechnen, was 14 MusikerInnen jährlich kosten?

Fakt ist, dass wir zwei Orchester ohne die ihnen angemessene Unterstützung haben. Der Kammerphilharmonie steht finanziell und dem Staatsorchester künstlerisch/organisatorisch das Wasser bis zum Hals – wobei sich Letzteres auch finanziell inzwischen so auswirkt, dass die Philharmonische Gesellschaft Schulden von DM 450.000,- hat. „Wir sind Grundversorger und wir verlangen das politische Bekenntnis dazu“, sagt das Orchester zu Recht: Immer neue Gutachten können nicht länger vom mangelnden politischen Willen ablenken. Die Kammerphilharmonie hat sich ihr Existenzrecht nicht nur über die Qualität, sondern auch über einen jungen Abonnentenstamm von 1000 – das entspricht dem des Staatsorchesters – erworben: Sie sind hier begeistert angenommen. Skandalös ist die Tendenz des Gutachtens, die beiden Orchester gegeneinander auszuspielen.

Mit einem Beschluss ist die Philharmonische Gesellschaft nun an den Senator Schulte, den Senat und Fraktionen der bremischen Bürgerschaft herangetreten: Sie sieht sich nur in der Lage, „ihrer Aufgabe als Veranstalter der Philharmonischen Konzerte in Bremen dauerhaft nachzukommen“, wenn die 15 vakanten Stellen besetzt sind. „Dabei ist der Vorstand bereit, eine stärkere unternehmerische Aufgabe und Verantwortung in der künftigen Struktur zu übernehmen“. Was könnte das für eine Struktur sein? Barbara Grobien von der Philharmonischen Gesellschaft: „Das ist völlig egal, eine GmbH meinetwegen. Bedingung sind die 87 Stellen!“. Und übrigens: Wehe Bremen, wenn die Gesellschaft ihre Arbeit einstellt. Das künstlerische Management wird ebenso ehrenamtlich gemacht wie die Aquisition von ca. 1,2 Millionen Mark pro Jahr. Ute Schalz-Laurenze