Nach der Unschuld

„Ich antizipiere Gefühle, die in der gesellschaftlichen Entwicklung spürbar sind“: In Berlin zeigt Jean-Charles de Castelbajac seine in Paris heftig umjubelte Kollektion „Supernatural“

taz: Herr Castelbajac, in der Presse wurde Ihre Schau als die wohl spektakulärste dieses Frühjahrs gefeiert. Sie haben die Frauen sozusagen in den Zoo geschickt ...

Jean-Charles de Castelbajac: Nein, es war kein Zoo. Aber nach all dem Minimalismus der vergangenen zehn Jahre, nach Gore-tex und Microfaser, dieser ganzen Macht der Technologie, da wollte ich diese Saison ins Naturkundemuseum gehen. Es gibt hier in Paris ein ganz zauberhaftes Naturkundemuseum. Das schien mir der richtige Ort für meine Schau, in der es um eine Rückkehr zur Natur geht. Natur auch im Sinne von Lewis Carroll. Ein bisschen verdreht, verrückt.

Ist Ihre bunte, fröhliche Schau gegen den Zeitgeist gerichtet?

Es ist keine politische Schau in dem Sinne, dass sie wirklich ein „Gegen“ formulieren möchte. Ich arbeite nicht unbedingt mit dem Trend. Eher ist es so, dass ich als Designer Gefühle antizipiere, die in der gesellschaftlichen Entwicklung spürbar sind. Jetzt ging es mir um die Zeit nach der Unschuld. Um die Gefühle, die man hat, wenn man seinen dreißig Jahre alten Teddybär wieder rauskramt, und er ist abgewetzt, zerschlissen, aber für Sie selbst ist er trotzdem komplett und perfekt.

Waren die Leute deshalb so enthusiastisch angesichts Ihrer Schau?

Das mag sein. Mein Aufbruch, wenn man so will, kam auch daher, dass ich zwei Söhne habe. Einer ist zwanzig, der andere sechzehn. Und die sagten vor zwei Jahren zu mir: Weißt du, du bist berühmt bei den Leuten deiner Generation, aber junge Leute kennen dich überhaupt nicht. Da merkte ich, ich sitze in meinem Elfenbeinturm, mache meine Sachen, ich bin in vielen Museen dieser Welt vertreten, aber was ist Mode heute? Meine Schau ist für mich darauf eine Antwort. Und offenbar ist sie es auch für die Besucher meiner Schau. Ich habe früher viel beschützende Mode für Frauen gemacht: Mäntel, Jacken, die umhüllen, verbergen. Jetzt weiß ich, die Frauen müssen von mir nicht beschützt werden. Eher brauche ich ihren Schutz.

Ich habe eine Kontroverse mit einer Freundin, die die Parole „Irony is over“ vertritt. Sie sagt, Mode kann nicht ironisch sein. Nun wurde Ihre Schau als ironisch beschrieben. Was sagen Sie?

Wenn es in der Mode um Poesie und Humor geht, ist das immer ein riskante Sache. Aber es waren auch Leute in meiner Schau zu Tränen gerührt. Die Tier-Applikationen provozierten bei ihnen ganz andere Gefühle. Wenn ich mich als Modedesigner nur dem Institutionellen, der großen, seriösen Aufgabe verpflichtet fühle, dann kann ich, offen gesagt, mit dem Beruf aufhören. Natürlich ist die Mode eine Industrie, und ich bin ein Geschäftsmann mit sechzig Läden weltweit. Aber am Ende mögen die Leute an mir die „différence“, das, was sich an meiner Mode nicht geradebiegen lässt. Das Schräge, Verschobene eben.

Und man kann ja beobachten, wie sich in der Mode Marketing und Branding immer mächtiger entwickeln. Und je mehr Bedeutung Branding und Marketing haben, desto weniger „différence“ ist zu erkennen. Bernhard Wilhelm ist ein junger deutscher Designer, den ich sehr mag. Seine Mode ist extrem gut geschnitten, aber sie ist auch extrem ironisch, irritierend.

Wann begannen Sie als junger Designer zu arbeiten?

Nach dem Mai 68.

Sie scheinen sich an dieses Datum ja sehr genau erinnern zu können?

Ja, ich komme aus einer aristokratischen Familie in Frankreich, sehr konservativ, und der Mai 68 war für mich wie ein Elektroschock. Ich war nach Paris gekommen, um Jura zu studieren. Und dann musste ich ein Rebell werden, zu erst gegen meine Herkunft. Gut, man macht dann irgendwann Frieden, aber alles fängt mit Rebellion an. Ich fürchte, ich wäre ein schrecklicher Anwalt geworden. Allerdings – ich denke, ich bin heute ein guter Anwalt für die jungen Designer. Ich unterrichte an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und an der St. Martin’s School of Design in London, und ich bin absolut erstaunt über die hervorragenden jungen Designer. Ich mag Wendy & Jim, die beim „Festival de la Mode“ dabei sind. Sie sind Studenten von mir, aus Wien.

Ist es für junge Designer nicht schwieriger denn je, den Durchbruch zu schaffen?

Ja. Die Industrie ist auf Marketing fixiert. Die jungen Designer müssen kämpfen. Sie müssen kreativ sein, nicht nur in ihrer Mode, sondern vor allem in ihrer Strategie. Sie müssen die neueste Technologie nutzen. Sie müssen unbedingt das Web für sich zu nutzen lernen. Mode-Designer zu sein heißt nicht nur talentiert zu sein. Es heißt vor allem hartnäckig und ausdauernd zu sein. Es geht auch um die Idee, eine Gruppe zu bilden. Es gibt junge Designer, aber es gibt auch junge Fotografen, junge Journalisten und junge Künstler, und wenn die zusammenarbeiten und sich die Bälle zuspielen, dann entsteht das, was man eine Generation nennt. Und eine Generation setzt sich durch. Es geht nicht um Individualität, es geht um Solidarität. Es geht immer um eine nouvelle vague.

Interview: BRIGITTE WERNEBURG

Festival de la Mode, Galeries Lafayette, Infos: Tel. 20 94 80