Austrian Psycho

Entfesselte Triebe in Haider-Land: Franzobel bricht schreibend Tabus, um nicht selbstzum Massenmörder zu werden – „Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkt“

von VOLKER WEIDERMANN

Das erzählen sich manche Bücherfreunde heute noch: wie sie 1995 auf der Rückfahrt vom Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb, im Zug wildfremden Mitreisenden mit Freudentränen in den Augen die schönsten Stellen aus dem soeben gekürten Preisträgertext vortrugen. Die Stimmung im Zug soll glänzend gewesen sein. Der Verfasser des Textes war der junge österreichische Dichter Franzobel. Franzobel, der Wortschöpfungsartist, der Heiterkeitsfurorist und unerschöpfliche Geschichtenfinder, der die Sprache an bislang nicht gekannte Grenzen auszudehnen vermag, wurde damals mit einem Schlag berühmt.

Damals, als Klagenfurt noch als eine Art Idylle galt und noch nicht die Hauptstadt eines Bundeslandes war, das von einem Obmann Jörg Haider regiert wird. Inzwischen ist das anders. Haiders Ressentiment-Partei regiert sogar auf Bundesebene mit, der Bachmann-Wettbewerb darf nicht mehr Bachmann-Wettbewerb heißen und der Dichter Franzobel stellt seine Sprachartistik in seinem neuen Roman ganz in den Dienst von Ekel und Verachtung, Traurigkeit und Hass. Ja, vor allem Hass.

Bekanntlich hasst es sich in keinem Land der Welt so tief und herzlich wie in Österreich, dem Land, dessen größte Nachkriegsdichter auch dessen größte Hasser waren. Und nie war es so wertvoll und wichtig wie in diesen Tagen, in denen das Ressentiment die Macht übernommen hat, in der Literatur kräftig dagegenzuhassen und der hässlichen Gesellschaft, die sich immer noch in ihrem kitschigen Mozartflötentonschnörkeltortengusssüßlichkeitsgewand höchst notdürftig verkleidet, den Spiegel vorzuhalten.

Eigentlich ist „Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkt“ ein Kriminalroman. Am Anfang ein Mord, ein Menschenauflauf und ein Diebstahl. Am Ende eine Auflösung und viele andere Auflösungen auch. Im Roman selbst heißt es aber über den Roman: „Eigentlich soll es ja die Geschichte der Pepi sein, die Geschichte einer Minderjährigen, aus der eine Hure werden muss, die Geschichte einer Liebe und die Chronik vom nicht stattfindendem Glück, von der Vergeblichkeit. Aber weil schon mal ihr Onkel klopft, ist es auch eine Geschichte von der Mathematik und vom Ende aller Zeit.“ Und noch einiges mehr wird da aufgezählt. „Scala Santa“ ist vor allem ein Gesellschaftsroman, ein Buch über den Österreicher ganz privat, den netten Alltagsfaschisten von nebenan.

Ein ganzes Wiener Stadtviertel macht es sich zur Aufgabe, einen Mörder zu finden. Wir Leser suchen mit und finden dabei Grausamkeiten selten zuvor gelesenen Ausmaßes. Wir folgen den Mördersuchern in die privatesten Winkel ihrer Existenz und sehen dort nur Unrat, Abgründe und immer neue Grausamkeiten. Da werden Leichen und Kinder gefickt, untreue Ehefrauen durch Fleischwölfe gedreht und im Klo heruntergespült, da wird vergewaltigt nach Herzensunlust, Schädel gespalten, Kinderseelen für immer zerstört.

Franzobel schont uns nicht. Das wird alles schön detailliert ausgeschildert, und manchmal denkt man, beim Lesen eine Art Wollust des Autors an seinen drastisch-fantastischen Grausamkeitsbeschreibungen zu erkennen. Die Gewaltexzesse erreichen jedenfalls beinahe American-Psycho-mäßige Ausmaße, und der Index blieb diesem Buch wohl nur deswegen erspart, weil man in Österreich die Untergrundpopularität eines Buches mehr fürchtet als den ganz normalen Erfolg. Vielleicht liest ja keiner.

Das ist allerdings überhaupt nicht wünschenswert. Denn es ist natürlich viel mehr als ein Gewaltpanoptikum für Splatterfreunde. Die Menschen, die sich in „Scala Santa“ auf Mördersuche begeben und sich dabei gegenseitig begegnen, anziehen, abstoßen, lieben, vergewaltigen, foltern und ermorden, sind allesamt einsame, verzweifelte Geschöpfe, Erniedrigte und Beleidigte, die sich für die Enttäuschungen des Lebens an ihren Mitmenschen rächen, die endlich auch einmal selbst erniedrigen und beleidigen wollen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Und nur die Kinder denken noch: Wir leiden jetzt. Wenn wir groß sind, werden wir ganz andere Menschen sein, bessere. Illusionen. Franzobel schreibt: „Dennoch hatten sie oft gedacht – jeder Einzelne für sich –, dass man die Erwachsenen alle totschlagen müsste, sie selbst niemals so ein Erwachsener sein möchten. Was sie letztlich aber wurden. Alle.“

Franzobel denunziert nicht. Franzobel beschreibt. Präzise und fantasievoll. Und Franzobel versteht. Auch den Mörder. Auch den Faschisten. Das macht seinen Hass jedoch nur unerbittlicher. In einem Interview, das er zu „Scala Santa“ gab, hat er gesagt: „Meine Motivation beim Schreiben ist immer, das Leben zu verstehen. Es gibt da Dinge, die auch für mich tabuisiert sind. Wenn ich das nicht literarisch ausleben könnte, wär ich vielleicht selbst ein Massenmörder.“ Für die Menschen in „Scala Santa“ gibt es keine Tabus mehr. Der Kleinbürger wird ganz nackt gezeigt, mit all seinen Trieben, die durch den Mord zu Beginn des Buches plötzlich frei geworden sind. Der Mord hat den Schalter der Konventionen umgelegt, die Hülle der Höflichkeiten zerrissen. Welcome to Real Kleinbürgerwelt, Big Brother zu Hause bei FPÖ-Wählern und ihren Freunden. Heute zeigen wir euch mal, wie wir wirklich sind.

Am Ende reisen alle nach Rom. All die Mördersucher, die in Wahrheit nur das Leben suchen, die Liebe, den Anderen, Befriedigung und Glück, die jedoch nur Missgunst in sich haben und Eifersucht. Und deshalb nichts finden können als Gewalt. Franzobel hat auf den 400 Seiten seines Romans einen kleinen Kosmos entstehen lassen, ein am Ende kaum noch zu überschauendes Personengewirr mit so lächerlich-lustigen Namen wie Douglas Dünnbier und Kathi Gablfrühstück: Hausmeister sind dabei und Huren, Postboten und Primaballerinas, Botschafter und Bischöfe, Weltabschaffer und Ordnungssucher. Sie alle treffen sich am Ende in Rom, am Fuße der Scala Santa, der Heiligen Stiege aus dem Hause Pontius Pilatus, die Jesus am Tage seiner Verurteilung mehrmals auf und ab gegangen sein soll. Hier rutschen Tag für Tag die Gläubigen auf Knien die Stufen hinauf und bitten um Erlösung. Aber die Wiener Reisegruppe wird nicht erlöst. Oder nur zum Teil. Sie erfahren einige Wahrheiten über das Leben und Auflösungen über einige der Mordfälle. Aber die eine Lösung, die sie alle suchten, die gibt es nicht. Das Leben geht weiter. Hässlich und grausam und sehr, sehr einsam. Einfach so.

Franzobel: „Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkt“. Zsolnay Verlag, Wien 2000. 397 Seiten. 39,80 DM