Papierflutoffensive gegen Massenarbeitslosigkeit

Die EU trifft sich in Lissabon zum Beschäftigungsgipfel. Sie wird beschäftigt sein: Unvereinbare Tagesordnungspunkte sind anstrengend

BRÜSSEL taz ■ Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der EU heute in Lissabon zum Sondergipfel zusammensetzen, werden peinliche Gesprächspausen garantiert nicht aufkommen. Wer immer das Thema der Zusammenkunft in Erinnerung ruft – „Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und sozialer Zusammenhalt – für ein Europa der Innovation und des Wissens“ –, hat die Hälfte seiner Redezeit schon rum. Alle an der Vorbereitung des Beschäftigungsgipfels Beteiligten durften die Erfahrung machen, dass sich mit dem Plädoyer für die moderne papierfreie Informationsgesellschaft (Produktlogo: „eEurope“) trefflich Papier vollschreiben lässt. Deutsche Diplomaten registrieren aber dankbar, dass die Portugiesen das Arsenal klingender Stadtstrategien (Luxemburg-Prozess für Beschäftigungspolitsche Leitlinien, Cardiff-Prozess für Strukturreform und Köln-Prozess für makroökonomischen Dialog) nicht um einen „Lissabon-Prozess“ erweitern, sondern die bestehenden Mechanismen verzahnen wollen.

Gipfelveteranen versichern, noch nie in solchen Materialfluten versunken zu sein. Kein Wunder: Wer so ehrgeizige und unvereinbare Ziele auf die Tagesordnung setzt wie die portugiesische Präsidentschaft, muss viel quatschen, um die Beteiligten möglichst am Denken zu hindern. Denn die EUmöchte einerseits im Globalisierungswettstreit mit den USA und Japan mithalten, andererseits die soziale Komponente der Marktwirtschaft erhalten. Nur 61 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Europa arbeiten – in USA und Japan sind es 75 Prozent. Würde Europa diese Traumquote erreichen, gäbe es doppelt so viele neue Beschäftigte wie heute Arbeitslose in der Union. Auch die Frauenerwerbsquote würde dann steigen: Von heute 51 auf knapp 70 Prozent. Weitere Probleme des europäischen Arbeitsmarktes sind die regionalen Unterschiede, die hohe Langzeitarbeitslosigkeit und das steigende Missverhältnis zwischen den Qualifikationen der Arbeitsuchenden und den Fähigkeiten, die in den Wachstumsbranchen gebraucht werden. Neue Jobs nach US-Modell könnten vor allem im Dienstleistungsbereich entstehen. Dort arbeiten 55 Prozent der US-Amerikaner, aber nur 40 Prozent der Europäer.

Die EU antwortet mit einem ganzen Bündel von Schlagworten auf die Herausforderung. Aber der soziale Sprengsatz, der in Forderungen wie „Lebenslanges Lernen, Mobilität, gesteigerte Beschäftigungsquote“ einerseits und „Stärkung der Familie, Bestandsschutz des Sozialstaats“ andererseit liegt, wird kaum diskutiert. Die Arbeitspapiere spiegeln das ungelöste Dilemma.

Die Schaufenster-Situation eines Gipfels wird die Debatte nicht voranbringen. Undenkbar, dass Tony Blair dem Kollegen Lionel Jospin die günstige britische Arbeitsmarktprognose von 5,7 Prozent Arbeitslosigkeit für 2000 unter die Nase hält und ihn, der sich mit geschätzten 10,3 Prozent herumschlagen muss, dazu auffordert, das britische Modell von Billigjobs und Abbau der sozialen Sicherungssysteme zu übernehmen. Undenkbar auch, dass Deutschland mit geschätztem diesjährigen Wirtschaftswachstum von 2,6 Prozent von den irischen Musterschülern in Sachen Wachstum (6,9 Prozent) genötigt wird, sich auf ein gemeinschaftliches Wachstumsziel von 3 Prozent festzulegen. Es wird in Lissabon eine Good-Will-Erklärung dazu geben. Doch wer das Klassenziel nicht erreicht, wird trotzdem versetzt. DANIELA WEINGÄRTNER