Der lange Schatten der NS-Euthanasie

Der Prozess, 57 Jahre nach der Ermordung der Hamburgerin Irma Sperling  ■ Von Andreas Speit

In den frühen Morgenstunden des 16. August 1943 wurden Irma Sperling und weitere 227 Mädchen und Frauen mit Bussen von den Alsterdorfer Anstalten in Hamburg zur Wiener Klinik „Steinhof“ deportiert. Knapp fünf Monate später starb die 14-Jährige in der angegliederten Kinderfachabteilung im Spiegelgrund nach „medizinischen Experimenten im Dienste der Wissenschaft“. Ihre Leiche wurde obduziert, das Gehirn präpariert. „Ein Jahr später“ erzählt Irmas Schwester Antje Kosemund, „kam eine Sterbeurkunde, auf der die typische Todesursache für NS-Euthanasie-Morde stand: ,Grippe, Lungenentzündung'. Und eine Rechnung: 2.592.50 RM.“

57 Jahre danach steht der Wiener Psychiater Heinrich Gross als damaliger Oberarzt der Kinderfachabteilung vor dem Wiener Straflandesgericht. Dem 84-Jährigen wird zur Last gelegt, im Sommer 1944 an der Tötung von Kindern unmittelbar beteiligt gewesen zu sein. Doch das Verfahren wurde schon zum Auftakt, am 21. März, vertagt. „Mein Mandant schläft immer wieder ein und kann dem Prozess nicht folgen“, hatte Gross' Strafverteidiger Nikolas Lehner angeführt.

Kosemund war schon vor einigen Jahren auf den Psychiater aufmerksam geworden: „Mit den Forschungen an den Gehirnen seiner Opfer machte Gross sich seinen akademischen Namen.“ Gross widerspricht dem nicht: „Ich habe viele Arbeiten über Gehirnschnitte gemacht, insgesamt 1500 Gehirne. Ungefähr 300 von damals, aber nicht nur von Kindern.“ Mit den Tötungen aber habe er nichts zu tun gehabt.

1980 klagte Gross gegen den Arzt Werner Vogt, der behauptet hatte, „Gross war an der Tötung Hunderter angeblich geisteskranker Kinder beteiligt“. Ohne Erfolg. 1981 bestätigte ein Gericht Vogt, dass Gross „nicht bloß an einigen wenigen, sondern an einer großen Zahl von Tötungen mitbeteiligt“ war. Berufliche Folgen hatte all das für Gross nicht.

„Bis 1999 war er der meist beschäftigte Gutachter und verdiente alleine mit seiner gerichtlichen Tätigkeit fast eine Million“, weiß Kosemund. 1996 wurden die sterblichen Überreste Irmas und neun weiterer Mädchen auf den Ohlsdorfer Friedhof überführt. Bei einer Gedenkveranstaltung für die insgesamt 508 Euthanasie-Opfer der Alsterdorfer Anstalten wurden die zehn Urnen auf dem Ehrenfeld der Geschwister Scholl beigesetzt. Über 51 Jahre waren die „Gehirnpräparate“ Bestandteil der Kliniksammlung. „Bis heute besteht die sogenannte Gehirnkammer, in der 300 Gläser mit Gehirnen stehen“, sagt Kosemund. Zwar sollen die weiteren sterblichen Überreste beigesetzt werden, doch einige Präparate werden benötigt, um die Tötungsmethoden mit Gift nachzuweisen. Trotzdem fordert Kosemund, „endlich die anderen Gehirne würdevoll beizusetzen“.

Voraussichtlich wird das Verfahren gegen Gross schneller wieder aufgenommen, als erwartet. Nachdem der Wiener zusammen mit seinen Anwalt bereitwillig und ausführlich den österreichischen Medien Interviews gab, kamen dem Gericht Bedenken. „Es ist nicht wichtig, dass der Mann ins Gefängnis kommt“, meint Kosemund. „Wichtiger ist, dass die vielen Euthanasie-Opfer endlich einen Namen bekommen und in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.“