„Bildung fängt nicht erst in der Schule an“

Die Pädagogin Marion Musiol forscht für das Bundesfamilienministerium zum Bildungsauftrag von Kitas: Das Erlernen sozialer Kompetenz und persönlicher Wertvorstellungen ist in einer Großstadt wie Berlin heute notwendiger denn je – für alle Kids

taz: Frau Musiol, die desolate Haushaltslage macht auch vor den Kitas nicht halt. Kritiker befürchten, dass Kitas wieder weniger als Bildungs-, sondern lediglich als Betreuungseinrichtungen gesehen werden. Sie forschen gerade im Auftrag des Bundesfamilienministeriums zum Bildungsauftrag von Kitas. Was heißt das genau?

Marion Musiol: Bei den Kitas geht es eben nicht nur darum, dass die Eltern Beruf und Familie vereinbaren können. Wir wissen aus Studien, dass Kinder auf ihrem Weg, die Welt zu verstehen und darin ihren Platz zu finden, nicht nur Erwachsene, sondern insbesondere auch andere Kinder brauchen. Dafür sind Kindertageseinrichtungen der richtige Ort.

Was lernen Kinder in der Kita?

Soziale und personale Kompetenz sind heute Grundqualifikationen. Die Basis dafür lernen die Kinder in der Kindertageseinrichtung. Sie lernen dort soziale Beziehungen. Sie lernen, wie man Freundschaften bildet oder Konflikte in Interaktion löst, sie lernen Selbstständigkeit und wie man Verantwortung übernimmt für sich selbst und auch für andere Kinder.

Wann fangen solche Lernprozesse an?

Soziale Beziehungen und die Entwicklung der eigenen Identität, von Werten und Moral beginnen schon in der frühen Kindheit, eigentlich sofort nach der Geburt. Bildung fängt nicht erst mit dem Schulanfang an, und wir sollten diese sechs wichtigen Jahre vor der Grundschule nicht vergeuden.

In Berlin droht eine Verringerung des Betreuungsanspruchs von sieben auf fünf Stunden. Wenn die Kinder tatsächlich nur noch fünf Stunden in die Kita gehen, leidet die Bildungsfunktion der Einrichtungen dann?

Natürlich hat das Konsequenzen. Immer wenn Strukturveränderungen vorgenommen werden, schlägt sich das in der Qualität und der Umsetzung des Bildungsauftrags in den Kitas nieder.

Generell gelten Ihre Überlegungen für alle Kinder, auch solche, die in intakten Familien aufwachsen. Die klassische Familie mit Vater, Mutter und zwei Kindern gibt es aber immer weniger. Hinzu kommen soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit und Gewalt in der Familie, bei nichtdeutschen Familien mangelt es an Integration und Deutschkenntnissen. Welche Bedeutung haben Kitas in einer solchen Situation?

Wenn die Kitas gut sind, bekommen die Kinder generell etwas zusätzlich zu dem, was die Familie bereithält. Das gilt auch für ganz intakte Familien. Wenn es aber zu Problemen kommt, dann haben die Kindertageseinrichtungen einen kompensatorischen Auftrag. Die Erzieherinnen müssen sehr feinfühlig und empathisch darauf eingehen, was Kinder mitbringen. Die Kita muss dann ein Ort sein, wo die Kinder das antreffen, was ihnen in der Familie fehlt. Dort muss ihre Entwicklung gefördert werden.

Das ist besonders in den Innenstadtbezirken dringend notwendig, gleichzeitig wird bei den Kitas gespart. Wie beurteilen Sie das?

Wenn Erzieherinnen den Bildungsauftrag ernsthaft wahrnehmen sollen, dann brauchen sie dafür bestimmte Rahmenbedingungen. Unter den engen Vorgaben ist das sehr schwer. Doch trotz der knappen Kassen ist die Debatte um den Bildungsauftrag der Kitas bundesweit voll im Gang.

In der Politik und auch in der Öffentlichkeit scheint das aber noch nicht ganz angekommen zu sein.

Ja, das stimmt. Bei der Rede von Roman Herzog zum Beispiel, die ja Bildung zu einem Megathema in unserer Gesellschaft gemacht hat, war ganz klar zu verstehen: Der Kindertagesstättenbereich ist nicht mit bedacht worden und Bildung beginnt bei ihm erst mit der Schule. Das muss sich dringend ändern.

Interview: SABINE AM ORDE

Hinweis:

Marion Musiol ist Pädagogin bei infans e. V., Institut für angewandte Sozialisationsforschung, und erforscht den Bildungsauftrag von Kitas.