„Kein schmerzfreier Übergang“

Der Schriftsteller Tschingis Aitmatow stellt in Berlin sein autobiografisches Buch „Kindheit in Kirgisien“ vor – und besuchte die Premiere von Frank Müllers Dokumentarfilm über sein Heimatland „Wo der Himmel die Erde berührt“

taz: Das Filmplakat von „Wo der Himmel die Erde berührt“ nennt Sie ausdrücklich als Mitarbeiter. Wie sah die Zusammenarbeit aus?

Tschingis Aitmatow: Es war eine Zusammenarbeit auf ideeller Ebene. Ich gab Ratschläge, versuchte, in bestimmte Richtungen zu weisen, auf manches aufmerksam zu machen. Doch darüber, was wie aufgenommen werden soll, hat der Regisseur Frank Müller allein entschieden. Er ist jemand, der einen sehr genauen Blick für Situationen und Menschen hat. Mich zum Beispiel könnten Sie nicht einfach nach Afrika schicken mit der Aufgabe, einen Film zu drehen. In einem mir ganz unbekannten Land wäre ich aufgeschmissen. Aber Müller hat sehr viel Spürsinn und Instinkt bewiesen. Er kam von weither angereist, hat in den Bergen diese Menschen gefunden und ein tiefes Verständis für sie entwickelt. Ich finde, es ist ein sehr interessanter Film geworden.

Ein Thema, das der Film ganz klar vor Augen führt, ist das Ineinandergreifen von modernen und traditionellen Lebensformen im heutigen Kirgisien.

Natürlich sind die Veränderungen, die das moderne Leben mit sich bringt, auch in Kirgisien nicht aufzuhalten. Aber ich halte es für sehr wichtig, dass damit gleichzeitig auch ein Bewahren der Traditionen einhergeht. Für ein Volk ist es essenziell, durch die lokalen und nationalen Rituale eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart herzustellen.

Der Film macht dies sehr schön an der Figur der alten Frau sichtbar: Sie erzählt von ihrem Schicksal. Wir sehen ihre Familie, ihre Umgebung, wir hören, wie hier die aktuellen Probleme besprochen werden, und wir sehen das Lager in den Bergen und die traditionellen Feste, die dort gefeiert werden. Das ergibt ein sehr authentisches Bild heutigen Lebens.

Allgemein gefragt: Wie ist die gegenwärtige Lage in Kirgisien?

Es ist natürlich Märchenglauben zu denken, dass mit dem Tag, an dem Kirgisien ein unabhängiger Staat wurde, hier das schöne Leben begonnen hat. Es gibt vielerlei Schwierigkeiten. Einen produktiven Weg zu finden, um Demokratie, Freiheit und die Souveränität des eigenen Landes zu verwirklichen, ist alles andere als einfach. Die Menschen müssen umdenken, sich neu begreifen und definieren. Das können nicht alle. So gesehen stecken wir in einer Krise. Aber ich denke, das ist normal, denn einen schmerzfreien Übergang von einer Lebensform in die andere gibt es nicht. Auf jeden Fall ist die Unabhängigkeit eine große Chance für uns.

Gibt es so etwas wie Nostalgie nach der Vergangenheit?

Zweifellos. Früher war das Leben gemeinschaftlich organisiert. Man konnte sich mehr oder weniger auf ein Kollektiv verlassen. Heute ist man allein. Das ist ein Verlust, der das Leben erst mal schwieriger macht. Aber es wurde auch etwas dabei gewonnen. Frei zu sein bedeutet schließlich, selbst verantwortlich zu sein.

Sie sind ein Autor, der sowohl auf Russisch als auch auf Kirgisisch schreibt. In vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion wird der Einfluss der russischen Sprache und Kultur nun systematisch zurückgedrängt.

Für mich ist das Russische immer die Grundlage gewesen. Ich warne gegenwärtig davor, in dieser Hinsicht von einem ins andere Extrem zu verfallen. Wir haben uns über Jahrhunderte hinweg der russischen Kultur angenähert. Sie hat uns sehr viel gegeben. Sie war unser Tor zur Welt, zur Weltkultur. Sich heute deshalb von ihr zu verabschieden, wäre dumm. Ganz im Gegenteil, wir sollten uns das gute Verhältnis bewahren und daneben die eigene Kultur fördern und entwickeln. Das ist der Weg, den im Übrigen fast alle zentralasiatischen Staaten gerade verfolgen. Sicher, die Jugend lernt zunehmend auch Englisch, ebenfalls eine Weltkultursprache; oft genug geschieht das im übrigen vermittelt auf Russisch.

Viele nationalen Kulturen der noch jungen unabhängigen Staaten fühlen sich zunehmend von der amerikanischen Massenkultur bedroht.

Das betrifft uns ja alle. Auch Deutschland und Europa werden davon immer noch bedrängt. Ich denke, man kann dieser Massenkultur weder ausweichen, noch kann man diese Entwicklung aufhalten. Deshalb muss man eine Art Kombination suchen, sodass die Jugend, die der Massenkultur frönt, doch weiß, dass es auch noch etwas anderes daneben gibt, die eigene nationale, klassische Kultur. Die Ängste sind natürlich groß, und sie können nicht ganz verdrängt werden.

Zur Perestroika-Zeit haben Sie sich sehr für ökologische Themen engagiert. Spielt das für Sie immer noch eine große Rolle?

Natürlich, das kann gar nicht anders sein. Ökologisches Engagement muss immer von Dauer sein. Im Grunde muss jeder moderne Mensch sich ständig damit beschäftigen. Und den Jungen sollte man von klein auf an beibringen: dass der Mensch Teil der Natur ist und Verantwortung für sie trägt. Früher hat man das für selbstverständlich gehalten. Heute muss das bewusst geschehen.

Woran arbeiten Sie gerade?

Ich schreibe an einem Roman über jene, die im Zweiten Weltkrieg Kinder oder Jugendliche waren und heute zum alten Eisen gehören. Ihren Schicksalen ist mein neues Buch gewidmet.

Interview:
BARBARA SCHWEIZERHOF