Im elektronischen Museum

Desinformation, Detournement, Hacking: Tilman Baumgärtels Materialband über net.art will verhindern, dass die Netzkunst nur das vernachlässigte Kind der Kunstgeschichte ist

von ULRICH GUTMAIR

Net.art erinnert eher an einen Dateinamen des Betriebssystems Unix „als an einen neuen Ismus“, erklärte der Netzkünstler Alexei Shulgin vor einigen Jahren. Trotzdem erschien dem Kunstbetrieb Mitte der Neunzigerjahre die solchermaßen ironisch gelabelte net.art nicht weniger esoterisch als die internen Ordnungssysteme der Computernetzwerke, auf denen sie basierte. Seither ist Netzkunst von den Peripherien der Aufmerksamkeit dem Zentrum näher gerückt: War net.art für die letzte documenta noch ein randständiges Phänomen, wird Netzkunst vom Karlsruher ZKM inzwischen in Ausstellungen erfolgreich präsentiert. Der Berliner Kritiker Tilman Baumgärtel hat nun mit „net.art – Materialien zur Netzkunst“ einen Band mit Interviews aus der „formativen Periode 1994–98“ vorgelegt, in dem die KünstlerInnen zu Wort kommen, mit deren Namen sich die Idee von Kunst im Netz ursprünglich verband: Neben einem Interview mit Shulgin finden sich Gespräche mit Vuk Cosić, Heath Bunting, Olia Lialina oder dem Künstlerpaar Jodi.

Darüber hinaus widmet sich „net.art“ aber auch Ansätzen, die teils nicht unter den historischen Begriff der net.art fallen, teils gar den Kontext der Kunst generell verlassen. Im Fall von „Digitale Stad“ in Amsterdam etwa arbeitete lediglich ein hoher Prozentsatz von Künstlern daran mit, die bis heute bestehende virtuelle Gemeinschaft als Knotenpunkt zwischen Lokalpolitik und Netzaktivismus zu errichten. Baumgärtel verhandelt die Bedingungen und Kontexte von net.art in einem vorangestellten programmatischen Aufsatz dementsprechend umfassend und detailliert. Sein weit gefasster Begriff von net.art kann sich dabei auf ProduzentInnen stützen, die gerne mit der Frage spielen, wo das Netz aufhört und die Kunst anfängt.

Mitunter wird die Arbeit im und über das Internet als verlängerter Arm einer institutional critique verstanden. So etwa bei Wolfgang Staehle, dessen Projekt The Thing als Diskussionsforum im Mailbox-Format anfing, bevor die verschiedenen Teilnehmer in ihren Heimatstädten eigene Sites ins www stellten: „Ich fand es absurd, die Institutionen innerhalb der Institutionen zu kritisieren. Das war so, als würde man nur mal die Möbel neu arrangieren.“

Das Internet bot dagegen neue Möglichkeiten, sich eigene Kontexte zu schaffen. Alexei Shulgin etwa ging ins Netz, als er zu einer Ausstellung über zeitgenössische russische Fotografie in Deutschland eingeladen wurde, einige seiner profilierten Kollegen bei der Auswahl aber nicht berücksichtigt worden waren. Kurzerhand organisierte er im Netz selbst eine Ausstellung mit den vor Ort fehlenden Kollegen. Seitdem parodiert er im Netz immer wieder die Praxis des Kuratierens; oder er nimmt gleich die selbstreferenziellen Mechanismen des Mediums und dessen vorherrschende Ästhetiken ins Visier.

Denn die Kunst, die mehr oder weniger auschließlich im Internet stattfand und diskutiert wurde, entzog sich durch ihren prozessualen Charakter nicht nur den Strukturen des Kunstmarktes, sondern setzte sich vor allem mit den technologischen Dispositiven auseinander, die die Wahrnehmung im Netz bestimmen. In diesem Sinne lässt sich net.art nicht nur als das „Materialprüfungsamt des Internet“ verstehen, wie Baumgärtel vorschlägt, sondern auch als dessen ästhetisches Forschungsinstitut, das den Screen, den Browser und den Source Code als Rahmenbedingungen erst sichtbar macht. Mit Fakes, falschen Versprechungen, Detournement und Desinformation legt net.art den instabilen Modus der Repräsentation offen, der den digitalen Techniken von Copy & Paste inhärent ist.

Mit diesen taktischen Maßnahmen rückte net.art von Anfang an in die Nähe der Praxis von Hackern und Medienaktivisten, die sich nicht nur in der Frequentierung derselben Kommunikationsformen – etwa der Mailingliste „nettime“ – erschöpfte. Sowohl die Bielefelder Rena Tangens und padeluun als auch Cornelia Sollfrank bekräftigen daher die Parallelen von Kunst und Hacking: Ziel der Kunst wie des Hackens sei es, „Wahrnehmungsmuster und -gewohnheiten aufzubrechen“.

Trotz aller Bemühungen von net.art um eine Erweiterung des Kunstbegriffs, zumindest seiner Neubestimmung unter digitalen Bedingungen, bemüht sich Baumgärtel in seinem Text „Das imaginäre Museum“ um den Anschluss von net.art an die Kunstgeschichte. Auch die hier genannten Vorläufer sind größtenteils deren vernachlässigte Kinder: Telekommunikations-Kunst, Mail Art, Konzeptkunst. Die von der Concept Art angestrebte Dematerialisierung des Kunstwerks etwa sei in der Netzkunst eingelöst worden, so Baumgärtel. Er beruft sich dabei auf Robert Adrian X, der den elektronischen Raum als Äquivalent des konzeptuellen versteht.

Während eine auf Papier gekritzelte Handlungsanweisung lediglich der Sichtbarmachung, Vermittlung und Dokumentation eines ideellen Konzepts dient, ist der elektronische Raum aber nicht mehr als eine Bedingung – und damit sich selbst genug. Auch die Infrastruktur, die diese Immaterialität erst ermöglicht, bleibt in den Diskursen um die Körperlosigkeit des neuen Mediums oft im Dunkeln. Während Baumgärtel diese Frage nach spezifischen Unterschieden zwischen den „Immaterialitäten“ der weiteren Diskussion überlässt, wird der menschliche Körper dagegen durch die ebenfalls befragten Künstler Victoria Vesna und Stelarc thematisiert.

Mit „net.art“ hat das Institut für Moderne Kunst Nürnberg eine fundierte Sammlung von Dokumenten zur Netzkunst herausgegeben, die auch eine Ergänzung seines „Jahrbuchs 98/99“ bildet. Damals hatte sich das Institut unter dem Titel „netz.kunst“ bereits auf 272 Seiten ausführlich der Kunst im Netz gewidmet. Ein Projekt mit Folgen: Parallel zur Publikation wurde unter www.moderne-kunst.org gleich ein eigener Online-Bereich Netzkunst eröffnet.

Tilman Baumgärtel: „net.art. Materialien zur Netzkunst“. Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 1999, 180 Seiten, 58 DM