Alle Ziele vollkommen verfehlt

Bilanz des Krieges aus serbischer Sicht: Milosevic-System stabilisiert, Menschenrechte sind Kollateralschäden, ein ganzes Volk fühlt sich als Paria

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

Am 24. März 1999 heulten in Belgrad zum ersten Mal die Sirenen. Der auf- und absteigende, bohrende Ton war der Vorbote für eine ganze Reihe von Geräuschen, die man in Serbien bis dahin vorzugsweise als Spezialeffekte aus Kriegsfilmen kannte: zuerst das tiefe Brummen von Düsenjägern, dann das helle Zischen der Marschflugkörper, das dumpfe Kläffen der Flak und schließlich das Getöse in Trümmer zerfallender Gebäuden. Dann das Beben der Erde, das bedrohliche Klirren der Fenster, das Erzittern der Wände. Und nicht zuletzt die visuellen Effekte, die gespenstisch weißen Feuerzungen von brennenden Häusern, die die Finsternis einer Großstadt ohne Strom aufreißen. Die roten, gelben, weißen und grünen grellen Punkte auf nächtlichem Himmel hätte man als heiteres Spektakel empfinden können, wenn nicht ihr Zweck Tod und Zerstörung gewesen wären. Drei ganze Monate waren die Menschen von Todesangst geplagt. Das vergisst man nicht.

Genau ein Jahr nach dem Bombardement sind die Geräusche und die Bilder der Verwüstung tief im Bewusstsein der Menschen verwurzelt, genau wie die Angst, dass der Schrecken wieder beginnen könnte. „Ich zucke heute noch zusammen, wenn ich auf der Straße das Quietschen der Reifen höre. Das erinnert so sehr an den Fliegeralarm“, sagt die Lehrerin Mirjana, 30. Der Anwalt Boris Ilić erzählt, seine fünfjährigen Zwillinge würden sich stets in die Hose machen, wenn ein Kriegsfilm im Fernsehen läuft und er und seine Frau versäumen, den Ton abzudrehen. Psychologen und Politikwissenschaftler erinnern daran, wie leicht man dieses eingemeißelte Angstgefühl zu politischen Zwecken missbrauchen kann. Vor allem in einem isolierten Land, dessen sozial ruiniertes Volk ein Jahrzehnt lang von einem Krieg in den anderen irrt.

Der Westen unterschätzt das Kriegstrauma der Bevölkerung

Im Westen aber vergisst man wieder einmal, sich mit der Ursache aller bisherigen Kriege im ehemaligen Jugoslawien zu beschäftigen: mit Emotionen, mit aus einem Machtzentrum manipulierten Gefühlen. So unterschätzt man auch jetzt in der EU und Amerika bei der Ausarbeitung möglicher zukünftiger Strategien gegenüber Serbien die irrationalen Ängste nach einem traumatischen Krieg. Sie können zum weiteren Blutvergießen führen, wenn sie geschickt von Machthabern ausgenützt werden, man vergisst die massenpsychologischen Folgen der eindrucksvollen Machtdemonstration der westlichen militärischen Allianz.

Das Nato-Bombardement vom Vorjahr bestimmt immer noch maßgebend das politische Leben Serbiens. Die Ruinen in Belgrad erinnern täglich daran, dass deutsche, französische, britische, amerikanische Soldaten im Namen des Friedens tödliche Projektile auf Serbien abgefeuert und Nato-Strategen die etwa 2.000 getöteten Bürger Serbiens als Kollateralschaden bezeichnet haben.

Vertreter des serbischen Regimes versäumen es keinen einzigen Tag, die „heroische“ Verteidigung unter der Führung von Slobodan Milošević zu erwähnen. So erinnerte am Dienstag Ivica Dačić, Chef der Belgrader Milošević-Sozialisten, wieder einmal an die „Verbrechen der Nato“ und beschuldigte die Opposition, sie würde die Befehle für ihre „verräterische Tätigkeit“ von der Nato erhalten. Der jugoslawische Verteidigungsminister, Dragoljub Ojdanić, erklärte am gleichen Tag, der „freiheitsliebende Geist“ des Volkes habe den Aggressor besiegt, der einen Genozid am serbischen Volk durchführen wollte.

Vor zwölf Monaten hat die Nato ihre Kriegsmaschinerie in Bewegung gesetzt, um die erhabenen Werte der Zivilisation gegen Slobodan Milošević und seinen zehn Millionen Serben (inklusive Frauen, Kinder und nationale Minderheiten) durch die Zerstörung, unter anderem von Brücken, Autobahnen, Fabriken, Wohnsiedlungen, Elektrizitäts- und Wasserwerken, zu verteidigen. Das Wort „Krieg“ wurde im Westen peinlich vermieden, und das Bombardement begann ohne die Genehmigung des UN-Sicherheitsrates. Der Westen wusste nichts Besseres, als die zerstörerische Politik Milošević’ mit Zerstörung zu parieren und so einige Werte der Demokratie, des internationalen Rechts und den Sinn der Vereinten Nationen in Frage zu stellen.

Heute kann man die vorläufigen Ergebnisse der Nato-Politik in Serbien zusammenfassen: Die militärischen, politischen und moralischen Ziele sind allesamt verfehlt worden.

Im Kosovo kann von der Einhaltung der Menschenrechte – in deren Namen die Bomben fielen – nicht die Rede sein. Die KFOR hat es lediglich geschafft, nationale Rechte der Albaner auf Kosten der Serben zu verwirklichen. Nachdem im März des Vorjahrs die ersten Bomben auf Serbien gefallen sind, nicht vorher, hat die serbische Polizei bis zu einer Million Kosovo-Albaner brutal vertrieben. Sie konnten wieder in ihre Heimat zurückkehren. Seitdem die Nato in das Kosovo einmarschiert ist, sind über 260.000 Serben aus dem Kosovo geflüchtet, die nie mehr zurückkehren werden können. Die Nato hat das Kosovo von Serbien getrennt und bewacht nun das ethnisch fast völlig gesäuberte Territorium. Serbien hat sich de facto mit dem Verlust der „Wiege des Serbentums“ abgefunden. Ob albanische Extremisten die von ihnen beanspruchten Territorien im Süden Serbiens, in Montenegro und in Makedonien aufgegeben haben, ist eine andere Frage. Der UNO-Beauftragte für Menschenrechte, Jiři Dienstbier, hat offiziell festgestellt, dass „das Ziel, Menschenrechte im Kosovo herzustellen, vollkommen verfehlt worden“ sei.

Milosevic’ Macht beruht auch auf antiwestlicher Propaganda

Slobodan Milošević sitzt immer noch fest im Sattel, nicht zuletzt dank des Bombardements. Endlich konnte er seinem Volk den „Beweis“ erbringen, dass die von seinem Regime geschürten Xenophobien und imaginären Ängste begründet sind. Viele, vor allem junge Menschen, die sich nach westlicher Demokratie sehnten, haben den Glauben an Europa und europäische zivilisatorische Maßstäbe verloren. Die Kluft zwischen Serbien und Europa ist noch tiefer geworden.

Die serbische Opposition ist dramatisch geschwächt. Wenn Vuk Drašković oder Zoran Djindjić Kontakt mit westlichen Politikern aufnehmen, werden sie von den gleichgeschalteten staatlichen Medien als „Handlanger der Nato“ angeprangert, die von „Mördern serbischer Kinder“ Geld bekämen, um in Serbien einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Wie soll die serbische Opposition dem Volk erklären, dass Serbien ohne Unterstützung des Westens nicht die geringste Chance hat, sich aus der tiefen Misere herauszureißen?

Nach dem Bombardement schafft es das Regime mit Leichtigkeit, für die katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Resultate seiner Politik den „Feinden des serbischen Volkes“ die Schuld zuzuschieben. Auf dieser Propaganda beruht Milošević’ Machtsystem ebenso wie auf Korruption, Einschüchterung, einem breit ausgelegten Polizeiapparat, einer zurechtgebogenen Scheindemokratie – keineswegs auf reinem Absolutismus – und auf der völligen Missachtung internationaler Normen für den Umgang von Staaten miteinander. „Das Regime manipuliert mit dem Volksunglück und schürt antieuropäische Gefühle, um in der internationalen Isolation Serbien in einen Staat des Terrors und der Gesetzlosigkeit zu verwandeln“, erklärte Ivan Kovačević, Sprecher der „Serbischen Erneuerungsbewegung“ (SPO). Auch die SPO würde „denen, die bombardiert haben, nie verzeihen“, doch die Feindschaft müsse man begraben. Serbien habe genügend Tod und Leid für zwei Jahrhunderte erlitten, sein Platz sei in Europa.

Ein Jahr nach dem spektakulären Bombardement der Nato ist kein einziges Problem auf dem bombardierten Territorium, also in Serbien, im Kosovo und in Montenegro, wo immer noch ein Bürgerkrieg droht, gelöst worden. Außer einem. Im Kosovo werden Serben keine Probleme mehr machen, da die Provinz praktisch „serbenrein“ ist.