Gottloser Glücksinfarkt

Das Gute, das Gerechte, das Zwingende? Nichts davon. Es gibt nichts mehr, woran die Menschen noch glauben. Was sie lockt, was sie hoffen lässt, ist nur das Attraktivste, das Schönste und das Aufregendste. Selbst religiöse Fundamentalisten sind chancenlos. Zeitdiagnosen

von LUTZ RATHENOW

Karl Marx sah in der Religion noch Opium des Volkes. Also nicht von den Herrschenden verordnet, sondern die volkserzeugte Gegenmacht, um Herrschaft leichter ertragen zu können. An bewusstseinserweiternde Nebenwirkungen von Drogen dachte Marx dabei nicht, schon gar nicht an die Tatsache, dass seine Lehre ein Jahrhundert später in einem Teil der Welt – zur Ideologie verdünnt – als Religionsersatz serviert werden würde. Notfalls per Zwangsernährung, Lenin und Stalin sei Dank.

Der Mensch lebte eben nie vom Brot allein und brauchte durch die Jahrtausende seiner Existenz Mittler für den möglichen Sinn hinter den täglichen Erfahrungen der Sinne. Gerade in diesem Jahr, in dem das neue Jahrhundert schon begonnen hat, aber das alte Jahrtausend noch nicht zu Ende ist (strikt zeitrechnungstechnisch gesehen), machen sich die Menschen viele Gedanken über ihre Gedanken. Bücher und neue Meditationstechniken sollen dabei helfen.

Die modernen Religionen verwandelten die Vielheit der Götter in den Einen und machten die Sache so überschaubarer. Die Aufklärung raubte dem Glauben Stück für Stück jene Orte, an dem er Himmel und Hölle und die Existenz Gottes ganz real angesiedelt zu haben meinte. Die wissenschaftliche Erkenntnis bastelt am Menschen herum, mixt humanoide und tierische Gene.

Das Bewusstsein bestimmt eben mitunter das Sein, ganz gegen den andersherum gedachten Satz von Karl Marx. Das Bewusstsein will vor bestimmten Wahrnehmungen schützen. Obwohl die moderne westliche Gesellschaft nur noch ein Tabu zu kennen scheint: die Tabulosigkeit. Nicht das Überschreiten der Grenzen ist unser Problem, das bedeutet letztlich einen Zugewinn an Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten. Zum Problem wird der Zwang, Grenzen zum Überschreiten zu finden.

Da fordert die aufmerksamkeitsheischende Mediengesellschaft ihren Tribut, und alles Neue scheint schlechthin das Interessantere zu sein. Ein schlechter Ausgangspunkt für Religionen, die sich auf Traditionen gründen. Es sei denn, diese wird als bisher verkannt und faktisch neu zu entdecken präsentiert. Denn natürlich rede ich schon vor allem von der Krise der christlichen Religion, die für Außenstehende ausgelebt und verbraucht wirkt.

So ging es den aufstrebenden Religionen und politischen Bewegungen immer wieder: von der die Welt erkennen wollenden Neugier entwickelten sie sich zum Verhinderer der Neugier. Das ist im Grunde jenes Stadium, an dem sich jeglicher Fundamentalismus befindet. Der überwundene Machtgeltungsanspruch, wie in den meisten Staaten und christlichen Kirchen Europas, beseitigt aber nicht die Krise. Um sich den Glauben zu erhalten, musste der seine Hoffnungen in immer entlegeneren Phantasiewelten verankern.

Die wirklich revolutionären Veränderungen im Verhalten der Menschen im letzten Jahrhundert kamen allmählich. Die Antibabypille bewirkte diese. Die vielen lebensverlängernden Medikamente mit ihren die Forschung wiederum inspirierenden Nebenwirkungen. Und die Entwicklung der Massenmedien. Mit ihrem Täuschungsangebot, jederzeit optisch überall zu sein und informiert zu werden. Gäbe es Gott, würde der schon mit einer Presseerklärung auf sich aufmerksam machen.Die Säkularisierung eines großen Teils der Welt in diesem Jahrhundert bedeutet: Der Glaube an das Jenseits verflüchtigt sich bei der Betrachtung der Kostenkalkulation einer Beerdigung.

Es bleibt vielen Menschen nur die Hoffnung an die Wirkung der Pille danach und die Zuverlässigkeit der täglichen Stromzufuhr. Um zum Beispiel störungsfrei im Internet surfen zu können, vielleicht auf der Suche nach Informationen über den religiösen Fundamentalismus im letzten und in diesem Jahrhundert. Denn die Sehnsucht im Menschen nach dem transzendenten Heiligen wehrt sich gegen die schwindende Religiosität. Immer da, wo sie in Gefahr war, wuchs ihr mit innigerer Frömmigkeit das Rettende zu.

Es gibt im Grunde zwei Bewegungen, die in dieses neue Jahrtausend einmünden: Einerseits ein sich immer weiter differenzierender, intelligenter religiöser Pluralismus. Er macht das Überirdische fast zu einer individuell zuordbaren Lebens- und Sinndeutungshilfe.

Intelligenz war noch nie und ist leider weiterhin schwer als Massenbewegung organisierbar, so dass die zweite religiöse Entwicklung massiver in das ausgelaufene Jahrhundert eingriff: der Fundamentalismus. Sich abschotten vor allen Anfeindungen und den Realitäten zum Trotz stärker hoffen. (Das kann positive Effekte haben, und gerade in aussichtslosen Situationen stiftet solcher Glaube Überlebensenergie. Wenn er mit der Forderung nach Gewaltlosigkeit einhergeht, wie bei den Demos des indischen Freiheitskämpfers Mahatma Ghandi, beflügelt er politische Bewegungen positiv. Und wenn nicht, bleibt es oft beim privaten Rückzug in kleinere Gruppen, die sich den innigen Glauben erhalten wollen.) So entstanden und entstehen überall religiöse Gemeinschaften abseits der Amtskirchen. Aus ihnen heraus und neben ihnen.

Gerade das Christentum zeigt sich so facettenreich wie nie. Der Übergang von einer eifrigen über eine eifernde christliche Deutung zur Sekte hin ist fließend. Das auf missionarische Verbreitung ausgerichtete Sinnstiftungsangebot einer neuen Bewegung schafft sich Identität durch Abgrenzung zu anderen Glaubensrichtungen.

Fundamentalismus heißt immer, sich das eigene Wahrnehmungsvermögen so zu organisieren, dass nur Erwünschtes wahrgenommen wird. Die eigene Neugier muss bekämpft und in eine Gier nach Bestätigung verwandelt werden. Jahrhundertelang ausgefochtene Dominanzkämpfe ermüden irgendwann die Beteiligten. Doch selbst in unserem Jahrhundert vermag der weitgehend erkaltete Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten nicht nur in Nordirland Gewalt zu stimulieren. Wenn Fundamentalismus und ein durchsetzungswilliger Fanatismus sich vermählen, wird es gefährlich. Kommt noch die Kraft einer politischen Macht dazu, entsteht die Dreieinigkeit eines aggressiven Machtanspruchs. Genauer: des Machtausbreitungsanspruchs.

Wie viele Kriege und Religionen verträgt ein Jahrhundert? Die politisch fanatischen Heilslehren kopierten und imitierten den religiösen Fundamentalismus. Faschismus und Realsozialismus bleiben vorerst die Fanale, und es braucht keine geschlossene Theorie, um zu vergleichen. Beide haben einen zuverlässigen Gegner: die Moderne der westlichen Zivilisationen. Ihre Hektik, Beliebigkeit, stets wechselnden Moden sind nicht der Stoff, aus dem Ideologien für Diktaturen zu machen sind.

Die Frage ist: Wer ist Erlöser, wer Auslöser eines Medienspektakels? Die religiöse Komponente ist nur Zutat in dem Cocktail der Machtausübung. Jeder Fundamentalist lässt seine Sucht, die Welt zu beherrschen, als Notwendigkeit erscheinen und nutzt seine Ideologie, die ihm vorbeugend alles Recht gibt. Religiosität dient als schmucke Kleidung, damit die Nervenstränge des Machtwillens nicht zu blank offen liegen.

Die mediale Gesellschaft mit ihrer virtuellen Welthaltigkeit dürfte immer mehr wie ein Provisorium wirken. Alles scheint zu sein. Sie löst das Unruhe stiftende Gefühl aus, immer das Echte zu verpassen. Das lässt sich nur durch Beschleunigung aller Lebenszusammenhänge und durch spirituelle Gefühlsspritzen mindern. Wir werden unseren Glauben künftig häufiger wechseln. Im Kaufhaus schon Mal auf ein Schnupperangebot eingehen und für vier Wochen Probezeit zum Buddhisten konvertieren. Diese Religion wirkt ohnehin sehr offen. Man betritt einen Tempel und klatscht zweimal in die Hände, um Buddha auf sich aufmerksam zu machen. Dann folgt ein Wunsch. „Ich will Millionär werden!“ So sagte es einer neben mir in einem Tempel Kyotos. Aber auch das übersetzte nur der nette Begleiter beim Japanbesuch – schon wieder muss ich dem anderen einfach glauben.

Auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin lagen in einer Halle lauter zufrieden wirkende Menschen auf schaukelnden Betten. Über den Kopf hatten sie Geräte gestülpt, die ihnen Bilder, Musik und andere Sinneseindrücke vermittelten. Die Religion der Zukunft, im Set nach Hause zu tragen. Und kommen die Gerüche dazu, dann riecht wirklich jeder des anderen Gesinnung. So begegnen sich Warenwirtschaft und die übersinnliche Deutung. Alles bewegt sich zwischen verirrt und verwirrt, jeder mixt sich seine gewünschte Religion anhand der Gefühle und Sinneseindrücke, die er zu brauchen glaubt.

Neu ist das nicht. Geht doch von den Dingen in der Warengesellschaft jetzt schon ein übernatürlicher Glanz aus, betrachten wir nur die Aura eines neuen Autos in der Werbung. Die Werbung ist jetzt schon die verbrauchssinnstiftende Religion der Warenwelt. Sie ordnet das Chaos eines unübersichtlichen Warenangebots zum wohlsortierten Labyrinth und beitet sich als einkaufsleitende Orientierung an. Die Richtung bestimmt das Gefühl. Ob endlich heraus oder immer tiefer hinein, entscheidet der Fühlende. Meist wechselt er mehrfach an einem Tag die Richtung, so ist auch diese letztlich egal. Alles scheint völlig undurchschaubar und berechenbar in einem.

Wie jede wirksame Religiosität macht auch Werbung süchtig nach mehr. Das Produkt allein ist nur da. Die Sehnsucht nach ihm macht es begehrenswert. Nicht umsonst entzünden sich kreative Werbephantasien an den Düften diverser Deos und Parfüme. Die Werbung liefert den gigantischen Behälter für das, was sich jeder an religiösen Stimulanzen entnimmt. Die Verkleidung diverser Körperteile spielt eine inspirierende Rolle, die Rauschmittel (Alkohol, Zigaretten) und besagte motorisierten Fortbewegungshelfer.

Jedem seine eigene Sänfte und jeder sein eigener Sänftenträger. Im Gegensatz zum drohenden Fundamentalismus schreckt dann in einer solch betörenden Ablenkungswelt höchstens noch der Glücksinfarkt. Denn der Sinn hinter den Dingen soll beim Menschen Herz und Verstand rühren. Und wenn er Herz und Verstand nicht mehr unterscheiden kann? Nicht auseinanderhalten und auch nicht mehr auseinanderschalten? Dann würde ein neuer Fundamentalismus siegen: der einer absoluten Gleichgültigkeit. Genaugenommen schließt diese ein „absolut“ schon wieder aus, das wäre ihr viel zu egal.

LUTZ RATHENOW, 46, aus Thüringen stammender DDR-Dissident, 1998 Karl-Hermann-Flach-Preisträger, lebt als „Gelegenheitsgläubiger“ in Berlin. Jüngste Publikation: „Der Himmel ist heut blau. Lustige listige Gedichte und Geschichten für Kinder“ (Bilder von Egbert Herfurth), Kinderbuchverlag, Berlin 2000, 64 Seiten, 16,80 Mark