Dienstleistung gegen Mitgliederschwund

Ein Koloss verliert den Boden unter den Füßen: Kräftigst werden in der deutschen Wirtschaft Zweige privatisiert, alte Berufsfelder stillgelegt, neue aus dem Boden gestampft. Mitten zwischen sich rasant wandelnden Märkten stehen die zwölf Einzelgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) unter Zugzwang: Die Mitglieder schwinden dahin.

„Das Phänomen kann man nicht mit Kündigungen allein erklären“, Roland Schinko, Jugendsekretär DGB. „Es kommen einfach immer weniger Leute rein.“ Die Folge: Die DGB-Gewerkschaften befinden sich allesamt in einem stetigen Sinkflug. Zwölf Millionen ArbeiterInnen drängten sich noch 1991 unter das Gewerkschaftsdach, letztes Jahr waren es nur noch acht Millionen, Tendenz: fallend. Allein die IG Metall, die sich so gerne als Europas stärkste Einzelgewerkschaft bezeichnet, verlor zwischen 1995 und 1998 rund 400.000 Mitglieder.

Der Anteil der Gewerkschaftler an den Lohnarbeitern insgesamt, der so genannte Organisationsgrad, liegt heute gerade noch bei 27,5 Prozent. Die Globalisierung galoppiert dem DGB momentan mit all ihren negativen Nebenwirkungen davon. Immer weniger Arbeiter sind an den Stahlöfen großer Betriebe im Einsatz, immer mehr in verstreuten Betrieben von Wachstumsbranchen wie der Informations- und Kommunikationsindustrie.

Selbst im DGB wächst inzwischen die Erkenntnis, dass die Gewerkschaften unflexibel auf diese Entwicklung reagiert haben. In vielen Betrieben ist es ihnen noch nicht einmal gelungen, einen Tarifvertrag durchzusetzen, geschweige denn die Verbandsflucht der Arbeitgeber aufzuhalten. Nur noch jeder dritte Betrieb in Ostdeutschland ist an einen Tarifvertrag gebunden.

Am 1. Mai startet der DGB eine groß angelegte Imagekampagne, um Boden gutzumachen. Zehn Millionen Mark wird sie kosten, Kinos und Plakatwände mit einem Slogan überziehen: „Wer, wenn nicht wir?“ Die Frage ist vor allem an junge Leute gerichtet, die die Gewerkschaften in jüngster Zeit fast schon ignorierten.

Allein zwischen 1994 und 1996 sank die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder unter 25 Jahren von 794.000 auf 573.000. Jugendsekretär Schinko gesteht die eigene Machtlosigkeit ein: „Es ist unmöglich, diesen Prozess zu steuern.“ Die jungen Leute stehen mit Patchworkbiografien vor dem Gewerkschafter, sie jobben mal hier, mal da, wechseln Standort und Branchen. Genau dafür seien „keine Beratungsangebote da“, und die Branchenhopper zu organisieren sei schwer.

Man möchte wieder aus der Defensive heraus. „Im Grunde liegen die Nuggets ja auf der Straße“, meint Schinko, denn nie habe es „mehr Schutz- und Beratungsbedürfnis gegeben als heute.“ Der Weg aus der Misere sei „knallharte Dienstleistung“. Gefragt sind nicht mehr die Kollektivstandards, sondern vor allem individuell zugeschnittene Hilfestellungen: Beratung bei Arbeitsverträgen oder Gehaltsverhandlungen, Lohnvergleiche, Rechtshilfe.

„Wir haben uns viele Fragen viel zu lange nicht gestellt“, klagt Werner Albrecht, Projektleiter Kommunikationsstrategie bei der ÖTV. Man müsse nach vorne schauen. Herausfinden, was eine Gewerkschaft im 21. Jahrhundert eigentlich leisten soll. „Man müsste die Arbeiter fragen, was sie brauchen“, meint Albrecht. Jedes andere Produkt würde vor der Einführung schließlich auch getestet.

Mit neuen Strukturen und neuen Leitbildern könnte der DGB wieder zu alter Stärke zurückfinden. Einen Anfang machen jetzt fünf Dienstleistungsgewerkschaften: IG Medien, ÖTV, HBV, DPG und DAG wollen zur Supergewerkschaft ver.di fusionieren. Ob das den Trend stoppen kann, ist offen.

GUNNAR MERGNER