Ich spüre nichts

Die Möglichkeit schmerzender Intensität: Bei der deutschen Erstaufführung von „Gier“, dem letzten Stück der verstorbenen Dramatikerin Sarah Kane, kippt an der Schaubühne Nihilismus in stilles Pathos

„Nihilismus“, sagte Sarah Kane ihrem deutschen Verleger im Februar 1998, sei für sie „die extremste Form von Romantik“. Wirklich erklärt hat sie diese paradoxe Aussage nicht, obwohl sie der wesentliche Kern ihrer Weltsicht und Dramatik war; und obwohl sie wusste, dass kaum jemand ihre krankhaft den Kreislauf physischer und emotionaler Gewalt antreibenden Figuren als „hemmungslos romantisch“ begreifen konnte: „Wahrscheinlich ist es dieser Punkt, an dem meine Stücke missverstanden werden.“

Als das Gespräch geführt wurde, standen gerade zwei Uraufführungen der damals 26-jährigen Londoner Dramatikerin bevor. „Cleansed“ („Gesäubert“), Kanes drittes Stück, sollte im Mai am Royal Court Theatre herauskommen und „Crave“ („Flehen“, in Deutschland als „Gier“ erschienen) im August während des Edinburgh-Festivals. „Cleansed“ beschreibt mit extremer Brutalität das psychische Brechen und dann Vernichten von vier Liebenden in einer Art Klinik. Der Gedanke an die Ermordung von 6 Millionen Juden sei ihr beim Schreiben „wesentlich“ gewesen, so Kane, doch habe sie der Glaube an die Rettungsmöglichkeit der Liebe bei aller Gewalt geleitet. „Über beide Ohren“ sei sie damals verliebt gewesen. Als sie „Crave“ schrieb, war das vorbei, da habe sie diesen Glauben nicht mehr besessen. So sei ihr „bisher verzweifeltster Text“ entstanden. Es blieb ihr letzter. Im Februar 1999 nahm Sarah Kane sich das Leben.

Die deutsche Erstaufführung von „Gier“ ließ länger auf sich warten als die von Kanes vorangegangenen Stücken. Sie fand am Donnerstag in der Schaubühne statt, eingerichtet von Thomas Ostermeier. Nach den ersten Inszenierungen unter der neuen Leitung am Lehniner Platz, die von der Kritik nicht sehr positiv beurteilt worden waren, hefteten sich an diese nun große Erwartungen; schließlich gilt Ostermeier als Spezialist junger britischer Dramatik. Doch Kanes „Gier“ hat mit jenem Action-Realismus, mit dem britische Dramatik in Deutschland – vor allem durch Ostermeiers Baracken-Inszenierungen – reüssierte, gar nichts zu tun. Es ist ein stiller, assoziativer Text ganz ohne Handlung. Und so landete Ostermeier bei dieser Etappe des programmatischen „ungerichteten Suchverhaltens“ seiner Bühne unverhofft nah am postdramatischen Theater.

Auf der dunklen Bühne hat Rufus Didwiszus vier schwarz verspiegelte Quader nebeneinander errichtet, auf deren schmale Seite das Publikum blickt. Hoch oben auf diesen kalten Inseln stehen je ein Stuhl, ein Mikrofon, ein Mensch. Als tote Sonne bekam jedes Elementarteilchen eine flackernde Neonröhre. Gesprochen wird über das Mikrofon ausschließlich in Richtung Publikum, obgleich die Figuren offensichtlich Beziehungen zueinander haben. Welcher Art diese Beziehungen sind, ist nicht so offensichtlich, wohl aber ihre Basis: ein Flehen um Liebe, wie Kane es noch nie so ungebrochen auf die Bühne gebracht hat. Es geht um das Verlangen, frei zu sein von jemandem, ohne ihn zu verlieren. Zwischen die kurzen, durcheinander gesprochenen Sehnsüchte und erfahrenen Erniedrigungen betont immer wieder eine der nur A, B, C, M genannten Figuren: „Ich spüre nichts, nichts.“ Wenn A in den Raum fragt; „Was willst du?“, ertönt es polyphon: „Sterben“, „schlafen“, „nichts weiter“.

Stücke dieser Art haben weniger Kraft als Wucht. Und die Möglichkeit, schmerzende Intensität zu erreichen. Dass dies in Berlin nicht wirklich gelingt, liegt am Verhältnis Text/Schauspieler. Die Art der Präsentation ist der Live-Art abgeguckt, doch während hier der Text aus den Biografien der Darsteller gewonnen wird, die dann auf der Bühne mit Lust die Differenz zwischen Person und Akteur ausstellen, nähern sich Thomas Dannemann, Falk Rockstroh, Cristin König und Michaela Steiger Kanes Text über Identifikation. So wird statt erschreckenden Nihilismus im Moment des Aufschreis Pathos transportiert. CHRISTIANE KÜHL

Nächste Vorstellungen: 25. 3., 19 Uhr, 26. 3., 20 Uhr, Schaubühne am Lehniner Platz