Eine Stadt steht vor dem Bankrott

Der Rücktritt von Kultursenatorin Christa Thoben ist ein Paukenschlag für die Politik in Berlin: Mit den derzeitigen Etats kann kein Ressort überleben. Denn Reformen scheitern überall an verkrusteten Strukturen

Der CDU-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Klaus Landowsky, konnte gestern den Rücktritt der Kultursenatorin Christa Thoben nicht recht verstehen. Dabei ist es, wie es seine Parteifreundin sagte, ganz einfach: Nicht genug Geld, zu wenige – oder die falschen – Leute. Unter Geldmangel und Personalnot aber leiden alle Ressorts. Und verkrustete Strukturen, selbst noch aus Zeiten des Kalten Krieges, verhindern überall notwendige Reformen.

So in der Innenpolitik: Bei der Polizei etwa wurden in den vergangenen acht Jahren über 3.700 Stellen gestrichen und pauschal 236 Millionen Mark eingespart. Zugleich wurde die zweigeteilte Laufbahn eingeführt, der mittlere Dienst fiel de facto weg. Die damit einhergehende Höherstufung bedeute praktisch eine Gehaltserhöhung, kritisiert der innenpolitische Sprecher der SPD, Hans-Georg Lorenz. Dabei „stinkt der Fisch vom Kopf her“: Die Polizeiführung habe einen „Wasserkopf“. Und Lorenz nennt Gründe: In Vorwendezeiten habe Westberlin den Abbau industrieller Arbeitsplätze durch eine Ausweitung des öffentlichen Dienstes aufgefangen.

Unter alten Strukturen leidet auch die Finanzpolitik: Nach Jahrzehnten des Schuldenmachens zahlt die Stadt 10 Millionen Mark Zinsen am Tag. Als sei man noch in Mauerzeiten samt Berlinförderung, sind nur 41 Prozent der Ausgaben durch Steuereinnahmen gedeckt. Zwischen Einnahmen und Ausgaben klafft eine Lücke von 6,2 Milliarden Mark: fast ein Siebtel des Haushalts. Pro Kopf hat Berlin ein Bruttosozialprodukt, das nur zwei Drittel von dem Bremens ausmacht. Dabei gilt die Hansestadt als Armenhaus der Republik: „Wir sind Neapel und spielen New York“, so der grüne Finanzexperte Jochen Esser.

Desolat ist die Lage im Arbeitsressort. Allein 300.000 Sozialhilfeempfänger leben in der Stadt, von denen nach Informationen der bündnisgrünen Sozialexpertin Sibyll Klotz 70.000 durchaus erwerbsfähig wären, wenn sie angemessene Arbeitsmöglichkeiten erhielten. Für die Arbeitsmarktpolitik aber wurde das Budget im Vergleich zum vergangenen Jahr um 40 auf 440 Millionen Mark gekürzt.

Auch die Kinder bleiben auf der Straße: Allein für die Kitas freier Träger fehlen im laufenden Jahr 40 Millionen Mark – Ergebnis großer Zusicherungen aus der Vorwahlphase. „Strukturelle Probleme wurden über Jahre verschleppt“, klagt Klotz. Beschäftigungssicherung im öffentlichen Dienst wurde zugesichert, Modelle flexibler Arbeitszeit wurden zu wenig erprobt.

Hinzu kommen vertuschte Defizite: In der Wirtschaftsverwaltung werden 73 Millionen Mark Effizienzrendite in diesem Jahr erwartet – aber ob diese Mehreinnahmen tatsächlich zu erwirtschaften sind, steht nach Einschätzung des PDS-Abgeordneten Stefan Liebich in den Sternen: Bei den gegebenen Rahmenbedingungen sei im Sozialressort kaum Politik zu machen, sagt er.

Die Gesundheitspolitik leidet noch immer unter der Überversorgung aus den Zeiten der geteilten Stadt, als in Westberlin ein Fünftel der Bevölkerung Rentner waren. Es gibt weiter drei Unikliniken. Allein im Versorgungsbereich des Bezirks Mitte besteht eine Überkapazität von 1.500 Betten, erklärt die SPD-Gesundheitsexpertin Monika Hellbig. Die Krankenhäuser müssen Dienste im Wert von hunderten von Millionen Mark abbauen.

In der Baupolitik ist allein der Etat für die Wohnraumsanierung in fünf Jahren von 650 auf 350 Millionen Mark zurückgegangen. Doch noch immer zahlt die Stadt für die Städtebauförderung 90 Mark pro Einwohner – andere Stadtstaaten kommen mit 30 Mark aus, wie der SPD-Bauexperte Michael Arndt erläutert.

Beim Verkehr zahlt das Land Berlin dieses Jahr 30 Millionen Mark allein für den Ausgleich des Defizits des Flughafenbetreibers BBF und 60 Millionen für U-Bahn-Wagen, die bestellt wurden, auch wenn heute ein ganz anderer Bedarf besteht. Zudem sind die Budgets für Straßenrenovierung nach Auskunft des SPD-Verkehrsexperten Christian Gaebler chronisch unterversorgt.

Im Hochschuletat klafft im laufenden Jahr bei den Investitionen ein Loch von 65 Millionen Mark, sagt der Wissenschaftsexperte der Bündnisgrünen, Bernhard Weinschütz – und die scheidende Senatorin Thoben habe gerade mal die Hälfte etwa durch Streckung von Ausgaben zu decken können geglaubt.

In den Schulen wurden seit 1996 etwa 4.000 Lehrerstellen abgebaut, erklärt der bildungspolitische Sprecher seiner Fraktion, Özcan Mutlu. Die Schüler leiden: Die Kürzungen der Wochenstundentafel seit 1989 entsprechen insgesamt einem Schuljahr.

„Nach 100 Tagen im Amt ist dieser Senat eigentlich schon am Ende“, kommentierten gestern die grüne Kulturexpertin Alice Ströver und ihre Fraktionschefin Renate Künast. „Doch der Mut zur Wahrheit von Christa Thoben ist den anderen SenatorInnen nicht zuzutrauen.“ PHILIPP GESSLER