Im Herzen des Pietcong

Prädikat wertvoll: In Stuttgart ertönt Plink-ploink, das Geräusch der Hochkultur. Und zum Nachtisch gibt es noch Besseres: saftiges Tellerschnitzel – vom Hals

Solange man noch nicht ganz und gar ertaubt ist, soll man Konzertsäle meiden. Diese weise alte Regel war mir, da ich sie selbst aufgestellt habe, wohl bekannt. Freundschaft aber bricht alle Regeln, und um einem Freund zu Gefallen zu sein, ignorierte ich das Gesetz und begab mich wehrlos mitten hinein in eine pietistische Matinée. Wer das tut, darf sich später nicht beschweren. Um es für die Leser kürzer zu machen als für mich: Es war hart.

Das Kunstlied ist der Schlager des Bildungsbürgers. Für den Normalschlager, den Durchhalteschrei zwischen Roy Black und Stefan Raab, interessieren sich armselige Proleten, lauthalse Zwangslacher, die sich für ironisch und Schlager für – Vorsicht, ekliges Wort – „Kult“ halten, und jene bedauerlichen wie gemeinen Existenzen, die ihre Homosexualität zu einer Schwuchtelnummer heruntergebracht haben. Das Kunstlied zieht anderes Publikum an, gesetztes, gesittetes Bürgervolk mit so ordentlicher Fassade, dass nur Entsetzliches dahinter sich verbergen kann: die Herrschaft des Pietcong.

Gegeben wurde Musik der Sorte: Prädikat wertvoll. Der Dirigent wusste, wie man mit steinernster Miene den Gestus des Hochrespekts aus dem Publikum herausknebelt, und die braven Zuhörer trugen in ihren Mienen die feste Entschlossenheit zur Schau, sich – frei nach Morgenstern – am musikalischen Gedanken / moralisch hoch emporzuranken. Schon der Versuch, Musik zu einer Statusangelegenheit zu machen, ist strafbar, und Strafe kam. Die Mezzosopranistin, eine freundlich aussehende Dame in vatikanviolett, war eine echte Konkurrenz für die Kreissägen dieser Welt. Die Worte Mark und Bein nahmen den Kopf zum Gefangenen. Das lag weniger an der Sängerin als an ihrem Genre: Seit langem schon ist der geschriene Sopran von amnesty international geächtet. Allein, was hilft es? Immer mit, immer mit, mit dem Hindemith, so geht es zu im Kunstgesang. Leser von Tim und Struppi wissen, was es bedeutet, wenn die Castafiore ums Eck droht. Und doch gibt es ein Schlimmeres: das Hochleistungsgeschrei von Whitney Houston. In Whitney Houston wurde das Singen zur Olympiadisziplin; ihr Koloraturgekeife ist mit Doping allein nicht mehr zu erklären. Whitney Houston ist der Beweis dafür, dass auch Gesang genmanipuliert sein kann.

Psst – Obacht – Kunst: Ein Pianist trat auf und hob die Hände, als wolle er sich eincremen. Doch er salbte nur das Klavier. Plink-ploink ertönte, das Geräusch der Hochkultur. Hin und wieder stocherte er, die Finger wild gespreizt, in die Tastatur hinein wie der Vogel Greif. Dann wurde es richtig laut. Wollte er sichergehen, dass niemand schlief?

Dennoch beneidete ich den Pianisten sehr. Dafür konnte er wenig, denn mit seinem Wachtmeisterbart und seinem am Hinterkopf stark durchgewachsenen Knie wusste er eventuellen Neid auf äußeren Glanz kompetent zu unterbinden. Dem Mann saß aber ein Mädchen zur Seite, ein kreuzbraves Mädchen aus gutem Hause mit blondem Pferdeschwanz. Konzentriert hockte dieser Bürgertraum von Wohlanständigkeit neben dem Pianisten und lüftete in regelmäßigen Abständen sacht das Gesäß, um dem Mann die Noten umzublättern. Genau das will ich auch! Ich will, wenn ich öffentlich lese, dass ein kreuzbraves Mädchen aus gutem Hause mit blondem Pferdeschwanz mir die Seiten umblättert. Heda, Lesungsveranstalter: Ab sofort nie mehr ohne! So viel Kulturleistung muss sein.

„Leben ist leiden“, sagte Buddha. Wenn man in Stuttgart im Sonntagvormittagskonzert sitzt, weiß man, was der Mann meinte. Um das Leiden zu vermeiden, suchte Buddha den Pfad der Weisheit. Es war der Weg, der souverän an allen Konservatorien vorbeiführte.

Endlich durfte man „endlich!“ seufzen und gehen. Mit den gütigen Worten „Suppe ist Leben“ eröffnete der Stuttgarter Buddha Vincent Klink dem angebrochenen Tag noch einen frischen Horizont. Los ging es, der Suppe entgegen. Die Gastwirtschaft, in der wir am Ende landeten, hatte aber noch Besseres zu bieten: „Saftiges Tellerschnitzel vom Hals“ lockte eine Tafel. Sowas muss man sich erst mal mal vom Hals schaffen. Drinnen gab es dann sogar noch „Kotelett Western Art“. Western Art heißt: scharf gebrutzelt und Chilibohnen drübergekippt. Danach tat der Magen so weh, dass man wieder wusste, warum einst der Schnaps erfunden wurde. Und so, an Geist, Seele und Körper gleichermaßen gemangelt, traten wir dem Rest des Tages und der Welt entgegen: gebadet in den Auswüchsen der Musik und der Kulinarik wie Siegfried im Blut des Drachen, unschockierbar geworden, gefasst und entspannt der weiteren Hiebe harrend, die noch kommen sollten. WIGLAF DROSTE

Hinweis:

Die Worte Mark und Bein nahmen den Kopf zum Gefangenen. Der geschriene Sopran ist schließlich von amnesty international geächtet. Allein, was hilft’s?