Ohne Eifer, ohne Zorn

Pierre Boulez wird morgen 75. Als Komponist kämpfte er gegen Pathos, als Dirigent gegen Archaismen. Als Musiktheoretiker wirkte er weit über die Avantgarde seiner Zeit hinaus

von BJÖRN GOTTSTEIN

Pierre Boulez ragt leuchtend aus der Menge, als er sich in der Kölner Philharmonie von einem leicht überdrehten Publikum enthusiastisch feiern lässt. Wenige Wochen vor seinem 75. Geburtstag ist er als Dirigent des London Symphony Orchestra unterwegs. Auf dem Programm der vier Konzerte stehen Werke von Komponisten, denen er in den vergangenen Jahrzehnten einen neuen Anstrich verpasst hat: Mahler, Strawinsky, Schönberg und Bartók.

Alles wie immer: Boulez gebärdet sich zurückhaltend, schmucklos, freundlich. Seine Interpretationen geraten kühl, transparent, farbenreich und frei von Pathos. Der Innovator ist endlich zur Institution erstarrt.

Doch manches spricht dafür, dass Boulez sich bereits in den 50er- und 60er-Jahren erschöpft hat. Damals räumte er seine Ahnentafel großzügig auf: Arnold Schönberg und Igor Strawinsky waren im seinen Augen beide am Expressionismus gescheitert. Anton Webern hielt wenig befriedigende Lösungen bereit. Olivier Messiaen blieb ein geschätzter Lehrer, nicht mehr. Natürlich herrschte Aufbruchstimmung bei den Darmstädter Ferienkursen der 50er-Jahre; hier schmiedete man Musikgeschichte. Aber das Abnabeln und Hämmern kostet Kraft. Und es hinterlässt eine wüste Fläche, die neu zu gestalten man angekündigt hatte.

Plötzlich fehlt der lange Atem. Geradezu systematisch hatte Boulez musikgeschichtlichen Fortschritt vorangetrieben. Er hatte Begriffe wie Motiv und Material durch den der Struktur ersetzt. Und er hatte endlich eine zentrale Kategorie des verfluchten 19. Jahrhunderts ausgelöscht: den Ausdruck.

Den Höhepunkt dieser Entwicklung markiert das erste Buch der „Structure“ für zwei Klaviere von 1952. Jede Tonhöhe, jede Tondauer, jedes legato-Zeichen wurde in Zahlentabellen errechnet und mit der Akribie eines Buchhalters aus der Matrix in den Notentext übertragen. Selbst die Ausgangsreihe wollte Boulez nicht länger seinem Geschmacksurteil unterwerfen. Sie stammt von Messiaen. Kategorischer verneinte den gestalterischen Willen nur noch John Cage – in seinem stillen Stück 4'33'', ebenfalls 1952.

Mit dem ersten Buch der „Structure“ wurde aber auch klar, dass sich diese Konsequenz nicht durchhalten lassen würde, dass jede weitere Komposition Zugeständnisse an das komponierende Subjekt machen würde. So markiert „Le marteau sans maître“ für Altstimme und sechs Instrumente (1954) auch die entscheidende Zäsur im Selbstverständnis des Komponisten Boulez. Rhetorische Wendungen waren in früheren Werken wie den „Notations“ (1945) oder der „Sonatine“ (1946) noch immer als suchender Fingerzeig insbesondere auf Schönberg verständlich geworden. Jetzt entstprang der sprechende, klangsinnliche Gestus einer eigenen, scheinbar unverbrauchten Verve.

Das Ensemble des „Marteau“ verzwirbelt japanische, indonesische und afrikanische Klangvorstellungen mit der strenge europäischer Serialität. Eine derart gefärbte Musik labt sich an ihrem guten Geschmack. Als kulinarisch ist das Stück dann auch oft genug diskreditiert worden – aller logischen Konsistenz zum Trotz. „Le marteau“ bleibt bis heute Boulez' zentrales Opus – das Stück, mit dem er vorzeitig ans Ziel gelangte. Alles Folgende bemüht sich, seiner alternden Poetik Halt zu verleihen: das offene Mobile der dritten Klaviersonate (1957), die grundlegende Auseinandersetzung mit dem französischen Symbolisten Stéphane Mallarmé (1958–62), die Kompositionsschablonen der „explosante-fixe“ (1971), die elektronische Erweiterung des Ensembles seit den späten 70er-Jahren.

Das alles wirkte müde, ohne Funken und wenig zwingend. Es erstaunt daher nicht, dass sich Boulez seit den 70er-Jahren zunehmend als Dirigent profilierte. Seine Karriere als Orchesterleiter, die über London und New York schließlich nach Bayreuth führte, erhielt neuen Auftrieb. Am Pult konnte er seinen emphatischen Begriff von Moderne gegen eine immer noch bürgerliche Musikkultur behaupten. Er initiierte eine Aufführungspraxis, die sich auf Sachlichkeit und Analyse verstand und den Ballast historischer Verklärung über Bord warf: etwa mit einem messerscharfen Strawinsky ohne die üblichen Archaismen oder mit einem entmystifizierten, schlanken „Ring des Nibelungen“, der unter der Regie von Patrice Chéreau offen marxistische Züge trägt.

Neben dem Dirigenten stieß auch der Essayist und der Theoretiker Boulez seit den 70er-Jahren auf wohlwollende Resonanz. Der gereizte Tonfall der Nachkriegsjahre wich der verständlichen Auseinandersetzung mit Techniken des Komponierens. So fällt etwa die Gründung des akustischen Labors Ircam im Centre Pompidou in Paris auf seine hartnäckige Initiative zurück. Diese zentrale Forschungsstätte wird wohl auf ewig als heller Stern in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts leuchten. Und auch als Musiktheoretiker konnte Boulez weit über Konzepte der musikalischen Avantgarde hinaus wirken: Das pflanzenähnliche Wachsen („prolifération“), das er als Ideal musikalischer Form beschrieben hatte, diente Gilles Deleuze und Félix Guattari als Anstoß zu ihrem Wurzelstrukturmodell Rhizom. Die enthierarchisierende Ästhetik der „Tausend Plateaus“ schrieb die modernen Theorien von Boulez überzeugend für die Postmoderne fort. Und transplantierte das Treibhausgewächs in die freie Bahn.

Trotz solcher folgenreichen Inspirationshilfen begegnet man Pierre Boulez heute mit einem gewissen Unbehagen. Zwar möchte man Friedrich Nietzsches „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“ die unerschütterliche Integrität von Pierre Boulez entgegenhalten. Aber der fortschrittsgläubige Positivismus, dem Boulez nachhängt, schmeckt am Ende des 20. Jahrhunderts schal. Die Kompositionssysteme der 50er- und 60er-Jahre entsprangen der Unsicherheit, nach 1945 überhaupt noch eine Note zu Papier zu bringen. In dem Maße aber, in dem sich die Avantgarde ihre politische Aufrichtigkeit erarbeitet hatte, konnte das Kalkül endlich der Geste weichen. Als Legitimation einer musikalischen Äußerung sind Begriffe wie Logik und Stringenz heute jedenfalls nur noch von untergeordneter Bedeutung.