Das Erzbistum der Sünde

Wenn du Rat brauchst, musst du die Stadt verlassen. Wenn du dich entschieden hast, erst recht. Denn du bist eine Frau. Und du bist katholisch

aus PaderbornHEIKE HAARHOFF

Die Ungeheuerlichkeit ist 32 Buchstaben lang. Zu lang, um darüber hinwegzusehen. Andererseits hat die verbotene Tat, auf die der Sozialdienst katholischer Frauen an seinem Hauseingang in Paderborn immer noch hinweist, seit dem 1. Januar ja nicht mehr stattgefunden: Schwangerschaftskonfliktberatung. Vielleicht hat der Erzbischof deshalb bislang darauf verzichtet, das Schild abnehmen zu lassen. Vielleicht hat er es auch einfach nur noch nicht bemerkt. Denn um Frauen und ihre Nöte, so erzählt man es sich im Ostwestfälischen, sorgt sich Johannes Joachim Degenhardt wenig. Darum, dass die Sünde fern gehalten werde von seinem Erzbistum, dagegen sehr.

Die Alten haben es ihren Töchtern eingeschärft: Wenn er aber Gesangbuch statt Gebetbuch sagt, dann lass die Finger von ihm. Gesangbuch sagen nur die Evangelen, und das bringt Unglück. Eine gute Katholikin aus Paderborn weiß das. Und dann hat die eine oder andere das Unglück doch ereilt, auf einem der Schützenfeste in der Gegend zumeist, wo zu viel getrunken und im Suff der Erzbischof vergessen wird.

Eine Schande, die mit jedem Monat wächst. Ein Ruf, der die ganze Familie ruinieren kann. Ein Beispiel, das nicht Schule machen darf. Keine gymnasiale Oberstufe in der Stadt, die nicht von ehemaligen Mitschülerinnen zu berichten wüsste, die plötzlich und erwartet aus dem Klassenverband verschwinden. Der Nachwuchs immerhin wird inzwischen besser behandelt: Die Praxis, evangelische Kinder bei Klassenfotos in die zweite Reihe zu stellen, endete an Paderborner Schulen Anfang der 70er-Jahre. „Wie katholisch du erzogen worden bist, wie tief das alles sitzt, diese unheimliche Ehrfurcht, die Schuldfrage, das kommt ja alles erst hoch, wenn du schon ganz tief unten bist, wenn du nicht mal mehr mit deiner besten Freundin darüber sprechen kannst.“ Beate Kaiser, die in Wirklichkeit anders heißt, sitzt im Büro des Sozialdiensts katholischer Frauen in Arnsberg, Hochsauerlandkreis, zweieinhalb Zugstunden von Paderborn entfernt. Beate Kaiser, drei Kinder, davon eines schwer herzkrank, verheiratet, geschieden, neu verheiratet, war zum vierten Mal schwanger. „Ich hing voll in der Luft. Man sollte sich eigentlich nicht schämen, und dann schämt man sich doch.“

Kein Arzt nimmt einen Abbruch vor

Weil das Klima in Paderborn und Umgebung ein spezielles ist. Weil der Erzbischof hier in den 90er-Jahren ohne Furcht vor fliegenden Eiern predigen konnte: Schuld am sexuellen Missbrauch von Kindern trügen Mütter, die den Erziehungsurlaub den Vätern überließen. Weil Frauen, die hier abtreiben wollen, zwar nicht mehr nach Holland, dafür aber eine Tagesreise nach Bielefeld oder Detmold antreten müssen. Weil keine Frauenärztin, kein Frauenarzt in Paderborn, 134.920 Einwohner, bereit wäre, einen Abbruch durchzuführen. Die beiden katholischen Krankenhäuser scheiden selbstredend aus, und das einzige in evangelischer Trägerschaft lässt erklären: „Die Evangelischen sind ja nun auch Christen. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, das nicht zu machen.“

Der Fußweg zum Erzbischöflichen Generalvikariat führt durch einen kleinen Park entlang der Pader. Die mächtigen Giebel des Doms werfen Schatten, dann ist der Domplatz erreicht. Ein Bild wie aus einem Reisekatalog, abgetretenes Straßenpflaster, Tauben vor gothischem Kirchenschiff, rechts daneben, nicht weniger imposant, der Verwaltungssitz des höchsten katholischen Würdenträgers im Dreieck zwischen Sauerland, Teutoburger Wald und Weserbergland. Ein paar Quadratmeter Stadtfläche, die noch aussehen, wie es in Paderborn vor dem Krieg aussah. Es sind Quadratmeter, von denen viele Paderborner sagen, sie seien das einzig Schöne an ihrer Stadt. Vielleicht deswegen mögen sie das, was hinter den altehrwürdigen Gemäuern gedacht und entschieden wird, nicht schlecht reden.

Der Erzbischof ist nicht zu sprechen

Johannes Joachim Degenhardt selbst ist nicht zu sprechen. Der Erzbischof hat eine vierseitige Hochglanzschrift „Zur Neuordnung der Schwangerschaftsberatung in der Erzdiözese Paderborn“ verfasst, damit ist das Thema für ihn erledigt, für Nachfragen ist sein Pressesprecher zuständig. Volker Tenbohlen trägt Rolli und Jeans, und auch sonst macht er nicht eben den Eindruck, als entspringe die Logik, die er da im Namen des Heiligen Vaters aus Rom verteidigen muss, seiner eigenen Lebenswirklichkeit. Aber Job ist Job, und so referiert der Öffentlichkeitsarbeiter, dass Abtreibung ein „verabscheuungswürdiges Verbrechen“ darstelle. „Um das unbedingte Zeugnis der Kirche für das Leben nicht zu verdunkeln“, fährt Volker Tenbohlen fort, hätten die neun katholischen Beratungsstellen im Raum Paderborn seit dem 1. Januar die strikte Anweisung, keine Bescheinigungen mehr auszustellen, die zum Ende einer ungewollten Schwangerschaft berechtigen. Das habe der Erzbischof bereits Ende September angekündigt, genug Zeit also, sich auf den Wechsel einzustellen. Im Übrigen würden keine Stellen gestrichen beim Sozialdienst katholischer Frauen, der sich seit Januar gezwungenermaßen vermehrt der Beratung über Adoption, Kinderbetreuung, Scheidung und Sorgerecht widmet. Im Übrigen habe man 2,5 Millionen Mark zur Unterstützung schwangerer Frauen in Notlagen bereitgestellt. Im Übrigen steht die Sache mit dem verabscheuungswürdigen Verbrechen nirgends in der Bibel, dafür aber im Zweiten Vatikanischen Konzil, einem Papier von Männern für Männer, denen die zehn Gebote nicht weit genug gingen.

Macht nichts: „Die Aussage ist eindeutig.“ In Frankfurt, Berlin oder Köln mag das keine Diskussion sein, in Dresden, Erfurt und Rostock auch nicht. Wer schwanger ist und diesen Zustand beenden möchte, ist in Deutschland nicht angewiesen auf die katholische Kirche. Selbst in Paderborn, das geht aus der Statistik der Kreisverwaltung hervor, spielte der Sozialdienst katholischer Frauen keine bedeutende Rolle bei der Schwangerschaftskonfliktberatung: 90 Prozent der Frauen bevorzugten bereits vor dem erzbischöflichen Erlass die staatliche Beratung. Im Großen und Ganzen kein herber Verlust. Im Kleinen schon. „In so einer Situation bist du froh“, sagt Beate Kaiser, „wenn du eine Nummer hast, wo du anrufen kannst und weißt, hier geht das alles noch persönlicher, familiärer ab als in so einer öffentlichen Beratungsstelle, hier nimmt man sich Zeit für dich.“

Hier versteht man, was es heißt, wenn du sagst, dass du katholisch erzogen worden bist. Oder trotz allem noch daran glaubst.

Der Weg kann nur zu Eugen Drewermann führen. In seinem Paderborner Arbeitszimmer, in das vor lauter Büchern, Videokassetten und Papierstapeln kaum noch Licht fällt, sitzt der Mann mit Priesterweihe, der Religionswissenschaftler, der Psychotherapeut, der Autor. Der Ketzer. So nannten ihn seine Kirchenkollegen, bevor sie Ende der 80er-Jahre ein Dossier gegen ihn anfertigten, ihm 1991 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen und ein Jahr später das Priesteramt. Eugen Drewermann redet bedächtig, fast emotionslos, so als habe er seinen Frieden mit der Kirche gemacht, doch je sanfter die Stimme, desto gnadenloser die Attacke: „Die katholische Kirche gründet sich im Wesentlichen auf Tradition, Außenlenkung, Autoritätsgehorsam, patriarchalen Machtzentralismus in Gestalt des Papstes und auf Triebangst und Frauenambivalenz. Dieses Ensemble lässt nicht zu, dass Menschen frei leben, frei fühlen, frei denken. Sondern dogmatisch wird das Denken eingeengt, und über Triebrepression wird das Leben mit ständigen Schuldgefühlen behaftet.“ Was hat eine solche Kirche in der Schwangerschaftskonfliktberatung zu suchen? „Die Kirche könnte von ihrer Glaubensüberzeugung her für Tragödien des menschlichen Lebens mehr an Zuversicht und Hoffnung mitbringen, als es bei Menschen, die keinen religiösen Hintergrund haben, möglich scheint.“ Es ist ein Plädoyer, wie es nur in Paderborn gehalten werden kann. Vielleicht noch in Bayern.

Beate Kaiser wird ihr viertes Kind im Spätsommer bekommen, aber, sagt sie, „es war meine Entscheidung, und wenn die Beratung nicht offen gewesen wäre, wenn also von Anfang an klar gewesen wäre, dass ich im Zweifel keinen Beratungsschein erhalten würde, dann wäre ich nicht hierher gekommen“.

Dann wäre Beate Kaiser eine der Frauen, „die wir seit Januar nicht mehr erreichen“, Margrit Lüdtke-Jansing, erste Vorsitzende beim Sozialdienst katholischer Frauen in Paderborn, klingt bitter. Viele, so die Erfahrung der Beraterinnen nach den ersten Wochen, „rufen noch an, aber nur eine von fünf Frauen kommt überhaupt noch vorbei, wenn wir sagen, dass wir keinen Schein ausstellen können“.

Nicht, dass beim Sozialdienst deswegen jemand um seine Existenz bangen würde: Es gibt auch so genug zu tun. Es ist mehr „dieses Gefühl, dass eine Arbeit, die jahrelang als sinnvoll erachtet wurde, jetzt plötzlich diskreditiert wird“, sagt Margrit Lüdtke-Jansing, „auch wir haben ein Gewissen“.

Und so wird nach Auswegen gesucht. Dr. med. Brigitte Hunstig-Inkmann, Beruf Gynäkologin, Religionszugehörigkeit „überzeugte Katholikin“, hat sich vorsichtshalber bereits im vorigen Sommer von der zuständigen Bezirksregierung bescheinigen lassen, dass sie als Frauenärztin Schwangerschaftskonfliktberatung anbieten und Beratungsscheine ausstellen darf. Was sie auch und seit dem 1. Januar immer noch darf: Frauen, denen eine katholische Beratung lieber ist, zur allgemeinen Schwangerschaftsberatung zum Sozialdienst katholischer Frauen schicken, anschließend abfragen, was dort besprochen worden ist, und dann den Beratungsschein ausstellen. Aber auf Dauer, sagt Brigitte Hunstig-Inkmann, sei das nichts. Denn ihre Lösung ist zwar legal, aber nicht befriedigend. Die Kirche verweigert ihr die Achtung.

Drohungen gegen Donum Vitae

Deswegen müht sich die Frauenärztin um die staatliche Anerkennung von „Donum Vitae“ (Geschenk des Lebens), einem katholischen Laienverein, der sich im Dezember in Paderborn gegründet hat und nun versucht, die katholische Schwangerschaftskonfliktberatung irgendwie doch noch fortzusetzen. Mit der Kooperation des Erzbischofs ist freilich nicht zu rechnen. Der ließ bereits über seinen Generalvikar in der örtlichen Presse androhen, dass jeder, der sich bei Donum Vitae engagiere, mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen rechnen müsse, sofern er in Einrichtungen der katholischen Kirche beschäftigt sei. Wie ernst solche Drohungen zu nehmen sind, bekam unlängst Lippstadt zu spüren. Der katholische Kindergarten St. Maria Frieden, zu 85 Prozent vom Staat finanziert, platze aus allen Nähten und müsse wegen erheblicher Nachfrage erweitert werden. Die Kosten für den Anbau wollte die Stadt übernehmen. Doch das Erzbistum Paderborn beschied: „Die Planungen katholischer Kirchengemeinden orientieren sich grundsätzlich nicht am Gesamtbedarf an Kindergartenplätzen, sondern am Bedarf an Plätzen für katholische Kinder.“ Und der sei gedeckt. Streiks, Demos, staatliche Mittelkürzungen? Hat es alles nicht gegeben, nicht in Lippstadt, nicht im Erzbistum Paderborn. „Die katholische Kirche ist unser Arbeitgeber“, sagt die Kindergärtnerin. „Da kann man nicht viel machen“, sagt der katholische Priester vor Ort. „Wir hoffen, dass es noch einen Kompromiss gibt“, sagt der Lippstädter Bürgermeister.

Eugen Drewermann wird in diesem Jahr 60. Die Hälfte seines Lebens hat er in Paderborn verbracht. Genug Zeit, aus Beobachtungen Schlüsse zu ziehen. „Was mich bitter macht, ist, dass die meisten das Ringen in diesen Dingen leid sind. Es ist ihnen nicht mehr wert.“ Dann, nach einer Pause: „Es führt dahin, dass man mit der katholischen Kirche lebt wie mit einem mächtigen Traditionsverein, grob gesagt, wie mit einem Schützenverein.“

Eugen Drewermann sieht nicht aus, als habe er vor, Paderborn zu verlassen.