bücher für randgruppen
: Karl Lagerfeld und sein melancholischer Adonis

NUR KEINE UMSTÄNDE

Eines Tages im Jahr 1993 kündigte sich Karl Lagerfeld im Berliner Lokal Kumpelnest 3000 an. Er würde gerne das Ambiente des ehemaligen Bordells und jetzigen Szenetreffs für eine Fotosession nutzen, bitte aber um Diskretion.

Tatsächlich erschien der Modeschöpfer eine Woche später in den frühen Abendstunden mit Catering-Service, Technikern und Models, darunter Claudia Schiffer, und baute zwischen den verdutzten Zufallsgästen seine Kameras auf.

Erstaunlicherweise ging der Aufbau ganz unspektakulär vonstatten. Lagerfeld schüttelte sämtlichen Anwesenden freundlich die Hand und integrierte sie im Nu in das Geschehen. Gehörlosenaktivist Gunther Puttrich-Reignard, der aufgedragt im Leopardenmantel auf dem Barhocker saß, wurde von Lagerfeld auf der Stelle um Mitwirkung gebeten, konnte aber dessen Nuscheln nicht identifizieren. „Ach, welche Sprache spricht er?“, fragte mich der Modezar. „Deutsche Gebärdensprache.“ „Könnten Sie so freundlich sein und übersetzen?“

Käthe Kruses Tochter Edda, damals gerade ein paar Monate alt, wurde dem beglückten Gunther auf den Schoß gelegt – ein schönes Bild –, und selbst Sunshine, die mit langen Laufmaschen und einer von ihr mitgebrachten Riesenflasche Rotwein auf dem Sofa saß, war Teil der Veranstaltung.

Während Lagerfeld direkt neben ihr einen überaus hübschen Mann fotografierte, zischte sie giftig: „Hau doch ab nach Paris!“ Lagerfeld fragte daraufhin Sunshine, ob er kurz ihre Zweiliterflasche ausleihen könne, sie grunzte kurz: „Nimm.“ Und der etwas schockierte hübsche junge Mann aus Frankreich musste nun melancholisch auf die Flasche mit dem Fusel schauen, während sich Sunshine köstlich amüsierte und ihn Lagerfeld fotografierte.

Auch der ewig eifersüchtige Wirt von nebenan, Hotte Reichlich, der schon die Polizei rufen wollte, weil der Wagen mit dem Catering angeblich den Zugang zu seiner Kneipe versperrte, wurde elegant von Lagerfeld ruhiggestellt: Claudia Schiffer posierte sich neben Hotte Reichlich, ein paar Fotos wurden geknippst, und der Mann war für den Rest seines Lebens glücklich.

Schließlich, es war gegen 22 Uhr, verteilte eine Assistentin schwarze Augenmasken an die mittlerweile dreißig Gäste, die nun maskiert, also perfekt neutralisiert, hinter der sich stretchenden Claudia Schiffer nach vorne blickten.

Die Fotos wurden 1994 in dem Buch „off the record“ beim Göttinger Steidl Verlag veröffentlicht.

Auch sein neues Werk, ein kleiner Leinenband mit 19 Schwarzweißfotografien, strahlt etwas von des Meisters Bedürfnis nach Harmonie aus. Die findet er hier in seiner Vorstellung von Natur und Natürlichkeit – ganz ohne mitwirkendes Publikum.

Eine eigenartige, bezaubernde Melancholie liegt über Bäumen und Sträuchern, zwischen denen ein nackter Adonis lustwandelt. Fast aufgelöst im Gewirr der Laubes, im Schatten der Bäume oder im Licht der späten Sommersonne. Im Flirren der Espenblätter schaut er sehnsüchtig ins Nichts, reckt seine Arme hoch, und irgendwie vermissen wir an seinem hübschen Körper die Pfeile, die einst den heiligen Sebastian durchbohrten.

Die üppigen Blütendolden der Hortensien schauen verstohlen in alle Richtungen. Nur der Regen nimmt Kontakt auf, indem er beiläufig über die polierte Männerbrust rinnt. Auf diesem Luxuskörper, am Bizeps schließlich, findet sich ein sehr selbst gemacht aussehendes Tattoo, ein Monsterköpfchen mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

Das macht dieses überaus romantische, meditative und persönliche Buch dann auch sehr sympathisch.

WOLFGANG MÜLLER

Karl Lagerfeld, „Escape from Circumstances“, Steidl Verlag, Göttingen 2000, 32 DM