Generation P: Putins junge Männer

Der neue Präsident hat sich eine Denkfabrik geschaffen. Die Planer sollen eine Strategie für Russlands Entwicklung im nächsten Jahrzehnt und für eine Veränderung der Werte erarbeiten. Sie sind begeistert

MOSKAU taz ■ Einige hochkarätige Intellektuelle Russlands brüten derzeit in einem Hochsicherheitstrakt, hinter Detektoren, Drehkreuzen und Kameras. Tadellos gekleidete Sicherheitsbeamte sorgen für Ruhe. Türen öffnen sich nur dem, der im Besitz einer Magnetkarte ist. Die strenge Glasarchitektur mit zentralem Lichthof suggeriert Disziplin und Transparenz. Ein idealer Amtssitz einer Gelehrtenrepublik.

Das Alexander-Haus an der Malaja Jakimanka, einen Steinwurf vom Kreml entfernt, beherbergt seit Dezember das „Institut für strategische Ausarbeitungen“. Wladimir Putin rief den Thinktank ins Leben. Dessen Aufgabe: Grundsätze zu entwerfen, die im nächsten Jahrzehnt der russischen Politik als Leitlinien dienen sollten. Ein ambitioniertes Unternehmen, wieder einmal.

Zum Leiter des Braintrusts ernannte der amtierende Präsident den 35-jährigen German Gref. Wie der Chef stammt auch Gref aus St. Petersburg, wo der junge Jurist in der Stadtregierung unter dem kürzlich verstorbenen Anatoli Sobtschak arbeitete. Vor zwei Jahren wechselte er in die Hauptstadt auf den Posten des stellvertretenden Ministers für Privatisierung. Die Koordinierung des Superplans verlangt offenkundig den ganzen Mann. Ende Dezember schied Gref aus dem Amt. Gerüchte machen den freundlichen und nüchternen Russlanddeutschen bereits zum ersten Premierminister der Ära Putin.

36 feste Mitarbeiter und mehrere hundert Wissenschaftler sitzen über den Entwürfen zur sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des strauchelnden Riesen. Man hat ideologische Vielfalt von vornherein berücksichtigt, meint der 31-jährige Jurij Kotler, der sich erste Sporen in der föderalen Kommission für Wertpapiere und als Abwickler bankrotter Staatsbetriebe verdient hat. Kotler gehört zu einem Kreis junger Unternehmer und Professionals, der nach der Rubelkrise im August 1998 ein ehrgeiziges Projekt lancierte: die moralische Erneuerung der russischen Gesellschaft bis 2015. Die Therapie verspricht keine Wunder. Im Gegenteil: Staat und Gesellschaft Russlands könnten in zehn Jahren das Entwicklungsniveau des heutigen Brasiliens erreichen, wenn sie sich auf harte Zeiten einstellen. Eine ernüchternde Diagnose, die den Großmachtpolitikern nicht ins Konzept passen dürfte.

Trotzdem munkelt man im Umfeld des Instituts, sie seien in der Strategiekommission die treibenden Kräfte.

Russland umzubauen verlangteinen gigantischen Willen

„Als Putin die Veränderung der Werte zur wichtigsten Aufgabe erklärte, war das eine Eröffnung“, gesteht Kotler. „Seither schwört der Kreis auf den aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten. Wer diese Gesellschaft umbauen wolle, brauche einen gigantischen Willen. Und den hat er.“ „Generation P“ nennt man sie inzwischen. Schwerpunkt des Konzepts ist ein neuer „Sozialvertrag“, der bewusst den „Menschen ins Zentrum aller Reformbemühungen rückt“. Das klingt immer noch ein wenig nach Idealismus und dem Glauben an die Allmacht des sowjetischen Sozialingenieurs.

Indes sei etwas anderes gemeint, versichert Kotler. Der neue Reformversuch darf die Mentalität der Russen nicht einfach ignorieren. Zum klareren Verständnis dessen hatte Chef German Gref einen recht drastischen Vergleich angestellt: Wo der Mensch – vor die Wahl gestellt zwischen einer Flasche Wodka sofort und 10.000 Dollar morgen – zur Flasche greife, müssten wirtschaftliche Reformen ins Leere stoßen. Wie man dem entgegensteuern will, behält die Kommission für sich. Fest steht indes: Der Reformschub soll diesmal in allen Bereichen gleichzeitig gezündet werden. „Komplex“ nennt sich der interdisziplinäre Zugang, der die Strukturen der Macht, Wirtschaft und Gesellschaft modernisieren will. Konkrete Ergebnisse liegen schon vor. Welche? Nur so viel erfährt man: Die selbstherrlichen Provinzfürsten, die Gouverneure, müssten sich wohl an eine härtere Gangart gewöhnen. Putin nannte das „Straffung der vertikalen Macht“ – seiner Macht.

Im Alexander-Haus hat man kein Verständnis für westliche Bedenken, unter der Ägide des Ex-Geheimdienstchefs könnte sich Russland wieder in ein autoritäres Reich verwandeln. Wo das Gesetz wie ein Leuchtturm funktioniert, den es zu umschiffen gilt, müsse sich der Staat zwangsweise Autorität verschaffen. „Das meint Putin mit starkem Staat“, ist Kotler überzeugt.

Die Suche nach einem dritten Weg, dem russischen Sonderpfad, wie so oft zuvor in der Geschichte, weist die junge Riege der pragmatischen Idealisten weit von sich. Die schleichende Remilitarisierung und den rassistisch eingefärbten Patriotismus zurzeit will sie aber nicht als Menetekel verstanden wissen. Es sei ein Übergangsphänomen. „Auch Russland“, so ihr Credo, „schlägt den Weg der entwickelten Industrienationen ein. Auf seine Weise ...“

Um ihre Überzeugung zu untermauern, greifen sie auf eine logische Verknüpfung zurück: Ein autoritäres System muss nach innen mobil machen und Ressourcen bereitstellen, über die Russland gar nicht verfügt. Das Desaster wäre vorprogrammiert. Haben sie auch dem Chef die Konsequenzen so deutlich vermittelt? KLAUS-HELGE DONATH