Beitrittsländer drängen in die EU

In Brüssel beginnen die Verhandlungen über die Aufnahme der zweiten Ländergruppe in die Europäische Union. Die sechs Beitrittskandidaten haben es eiliger als die EU-Kommission und wollen die erste Gruppe sogar fast noch einholen

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Es ist so ähnlich wie bei der mündlichen Abiturprüfung: Aufgeregte Menschen in dunklen Anzügen betreten das EU-Ratsgebäude in Brüssel – exakt alle vierzig Minuten eine neue Gruppe. Abitur verkehrt allerdings: Es waren gestern gerade diejenigen erleichtert, die die meisten Prüfungsaufgaben bekamen. Lettland, Litauen und die Slowakei dürfen neben den fünf Verhandlungskapiteln für alle (Klein- und Mittelbetriebe, Wissenschaft und Forschung, Ausbildung, Außenbeziehungen, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) noch drei weitere eröffnen: Wettbewerb, Kultur und Statistik. Malta bekommt Industrie, Telekommunikation und Kultur hinzu.

Entsprechend pikiert sind die Rumänen. Aurel Ciobano-Dordea, Chef der rumänischen Delegation: „Was zum Beispiel Wettbewerbsregeln angeht, sind wir besser als einige andere aus der Gruppe. Wir begrüßen die Objektivität unserer EU-Partner, aber wir bestehen darauf, dass diese Objektivität auch horizontal zum Tragen kommt.“ Schwierigkeiten sieht Ciobano nur beim Umbau der Wirtschaft: Jeder dritte rumänische Arbeitnehmer verdient sein Geld in der Landwirtschaft. Aber nur 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) werden dort erwirtschaftet. Und er kennt den Vergleich mit dem „Agrarland“ Frankreich: Dort erwirtschaften fünf Prozent der Arbeitnehmer als Bauern fünf Prozent des BIP. Unproblematische Kapitel wie Erziehung, Wissenschaft, Klein- und Mittelbetriebe glaubt Ciobano schon Ende Mai schließen zu können, wenn der Rat dazu seine Position veröffentlicht hat.

Mit noch präziseren Zeitvorstellungen sind die Slowaken nach Brüssel gekommen. Delegationschef Ján Figel fühlt sich wohl mit seinen acht Kapiteln. Das Gros will er unter portugiesischer Präsidentschaft – also bis Ende Juli – erledigt haben. Im darauffolgenden französischen Halbjahr sollen weitere sieben Bereiche abgearbeitet werden. „15 Kapitel im Jahr 2000 – das wäre für die Slowakei eine befriedigende Zahl“, sagt er zuversichtlich. Die slowakische Regierung unter dem Christdemokraten Mikulas Dzurinda hat das Land seit September 1998 prowestlich umfrisiert. Der Bruch, der unter Vorgänger Meciar dazu führte, dass die Tschechen in die erste so genannte Luxemburg-Gruppe durften, die Slowaken aber vor der Tür blieben, soll möglichst rasch gekittet werden. Am Montag habe es Gespräche mit den tschechischen Nachbarn darüber gegeben, die Vorteile der slowakisch-tschechischen Zollunion auch innerhalb der EU zu erhalten.

„Bis zum 1. 1. 2004 wollen wir den EU-Standard erreichen“, sagt Figel. Damit meint er nicht das Ende der Verhandlungen, sondern den Tag der Aufnahme in die EU. Neben wirtschaftlichen Hoffnungen treibt die Slowaken auch ein psychologisches Ziel: Schließlich hat Tschechien schon 22 Kapitel eröffnet und als Mitglied der ersten Gruppe einen Verhandlungsvorsprung von zwei Jahren.

Den rechnen sich die Neulinge aus der so genannten Helsinki-Gruppe kleiner – und die EU hilft ihnen dabei. „Die Kommission hat die Eingangsvoraussetzungen, den EU-Standard, während der Verhandlungen mit der ersten Gruppe systematisieren können. Deshalb sparen die Kandidaten, die jetzt starten, sechs Monate der Wegstrecke, die die ersten sechs zurücklegen mussten“, lautet ein identischer Passus in der Erklärung, die jeder Delegation gestern von einem portugiesischen Ratsvertreter vorgetragen wurde. Sechs weitere Monate wollen die Slowaken durch besonders raschen gesellschaftlichen Umbau reinholen. Das bedeutet: Selbst wenn die Tschechen die ersten wären, die am 1. 1. 2003 zur EU stoßen, wäre der kleine Bruder Slowakei ein Jahr später auch drin.

Diesen Optimismus teilen die EU-Verhandlungspartner keineswegs. „Dass wir nun eröffnet haben, heißt noch lange nicht, dass wir jetzt die Ärmel hochkrempeln und über Inhalte reden“, sagt ein deutscher Diplomat. Zwar sollen die Detailverhandlungen über nötige Umstrukturierungen und mögliche Übergangsfristen noch unter portugiesischer Präsidentschaft beginnen – aber vor Juni rechnet in der Kommission niemand damit. Es wäre besser gewesen, Prüflinge und Prüfer hätten gestern einen Uhrenvergleich gemacht, statt nur vorbereitete Erklärungen auszutauschen.