„Die Dillgurke ist weg“

Eoin Moore hat einen rauen Berlin-Film mit großen Kinomomenten gedreht: „plus minus null“ – ein Gespräch über Pseudohippes, die Nouvelle Vague und bosnische Friseursalons

taz: Sie haben Ihren Film 1997 gedreht. Das war auch das Jahr des dänischen Dogmas, und mittlerweile entstehen immer mehr Filme, die mit digitalen Videokameras gedreht werden. War „plus minus null“ sozusagen Avantgarde?

Eoin Moore: Für mich war der Film eher eine konsequente Fortentwicklung. Während meines Studiums habe ich viel mit Video gearbeitet, weil es wesentlich billiger ist. Und ich wollte endlich drehen, aber nicht so lange auf Geld warten. Wir haben ein Exposé von drei Seiten eingereicht, mit ein paar Sätzen die Geschichte skizziert und ansonsten erklärt, wie wir’s machen wollen. Denn unsere Herangehensweise war schon irgendwie Neuland für die Produzenten. Noch vor zwei Jahren wurden mit den digitalen Kameras keine Feature-Filme gedreht.

Mittlerweile kann man von einem regelrechten Boom sprechen ...

Vielleicht war es mal wieder an der Zeit. Wirft man einen Blick zurück in die Filmgeschichte, gab es immer wieder die Bewegung zu logistisch einfacheren Filmen hin, die man unaufwändiger drehen kann. Filmen, in denen es dem Regisseur zum Beispiel mehr auf die persönliche Auseinandersetzung mit den Schauspielern ankommt, wie bei John Cassavetes. Die Handkamera hat auch dazu geführt, dass es die Filmemacher wieder an Originalschauplätze getrieben hat. Es war die Nouvelle Vague, die wieder auf die Straße ging. Oder plötzlich gab es empfindlicheres Filmmaterial, mit dem man nachts draußen drehen konnte. Neue Erfindungen haben immer wieder zu Vereinfachungen geführt. Was mich auch inspiriert hat, digital zu drehen, war die Möglichkeit, mit einem kleinen Team zu arbeiten. Es müssen nicht gleich Dutzende von Leuten mitreden.

Interessanterweise haben diese Bewegungen sich stets mehr für ein Kino der Wirklichkeit interessiert. Auch Ihr Film wirft einen unverstellten Blick auf Berlin.

Guckt man sich die Berlin-Filme der letzten Zeit an, dann sind das Club-, Szene-, Nacht-Filme, die sehr stilisiert sind. Meine Absicht war es, das abzubilden, was ganz normal, alltäglich ist. Ich bin nicht so filmisch drangegangen: „Oh, das ist jetzt aber schön.“ Wir haben das gedreht, was wir vorgefunden haben. Ich hatte auch ein bisschen Sehnsucht danach, Berlin nicht mit Weichzeichner und durch einen Szene-Filter zu zeigen, sondern so, wie ich es erlebe, wie es ist.

Wie erreicht man, dass die Darsteller nicht wie Fremdkörper in der vorgefundenen Umgebung erscheinen?

Durch Recherche. Das ist schon eine andere Welt. Ich hatte auch ein riesiges Gefühl der Verantwortung. Ich wollte nicht die typischen Abziehbilder einer Milieustudie über Prostituierte präsentieren. Deshalb muss man recherchieren, sich die Biografien anhören. Wir sind zum Strich gegangen, wir waren bei der Prostituierten-Vereinigung Hydra. Dann waren wir immer wieder in der „Dillgurke“, einem Treffpunkt für Prostituierte und Zuhälter. Uns fiel auf, dass die Frauen dort überhaupt nicht jammern, die kommen dahin, um von ihrer Arbeit Abstand zu nehmen, um für einen Moment Spaß zu haben.

Sie schildern mit ganz einfachen Bildern, wie hart der Job auf der Straße ist. Nach einem langen Arbeitstag zieht sich Ruth die Schuhe mit den hohen Absätzen aus und massiert ihre Füße. Und in der „Dillgurke“ hat man wirklich das Gefühl, mit am Tisch zu sitzen.

Wie gesagt, wir haben die Stimmung des Schauplatzes immer mit in unsere Dramaturgie einfließen lassen. Die Wege von Tamara, Ruth und Alex sollten sich irgendwann kreuzen. Da hat sich die „Dillgurke“ förmlich angeboten, weil die Prostituierten hier zum Verschnaufen hinkommen. Diese Kneipe hat für sie etwas von einem Zuhause, sie gibt ihnen ein Gefühl der Geborgenheit. Der Wirt Toni packt tatsächlich manchmal seine Gitarre aus und spielt Flamenco, da war es gar nichts Ungewöhnliches, dass eine der Darstellerinnen dazu getanzt hat. Solche Situationen gibt es dort immer wieder.

Auch die Dialoge haben nichts Künstliches.

Wenn man ein klassisches Drehbuch schreibt, dann überlegt man ganz lange, wie einzelne Sätze wirken. Man schneidert den Dialog so, dass er genau die gewollte Information wiedergibt. Häufig kommen dabei Dialoge heraus, die in einem längeren Zusammenhang dann unnatürlich wirken, weil manchmal alles zu sehr auf den Punkt gedacht ist. Wir haben es genau andersrum gemacht, die Schauspieler und ich haben durch die Recherche und in langen Gesprächen die Biografie und Geschichte der Figuren entwickelt.

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Tamara aus „plus minus null“ arbeitet als Prostituierte, weil sie den Friseursalon ihrer Mutter in Bosnien wieder eröffnen möchte. Wir wussten alles: Was für Geräte sie braucht, wie teuer sie sind, wir kannten uns hinterher wirklich mit den Preisen von Trockenhauben aus. Hinter jeder Figur gab es ein ganzes Universum, und wenn man sie dann fragt, warum bist du eigentlich hier, kommt es einfach aus ihr raus, eben aus einer Geschichte, nicht aus einem ausgedachten Dialog.

Bei aller Nähe zur Wirklichkeit gönnen Sie Ihren Figuren auch großartige Kinomomente. Zum Beispiel wenn Alex mit einer der Darstellerinnen nachts auf die Baustelle des Potsdamer Platzes steigt, dann hat man wirklich das Gefühl, ihnen liegt die Welt zu Füßen.

Auch in dieser Szene waren wir ganz dicht an den beiden dran. Das hat eben auch mit den digitalen Kameras zu tun. Ihre Handlichkeit und ihre große Lichtstärke bedingen eine große Beweglichkeit. Man kann tatsächlich aus der Hüfte drehen, aus dem Bauch heraus. Dadurch entsteht auch das Gefühl der Unmittelbarkeit. Manchmal ließ ich die Schauspieler auch zwanzig Minuten durchspielen, damit es auch so etwas wie einen natürlichen Vor- wie Nachlauf gibt. Die Authentizität konnte so besser entstehen und gehalten werden.

Für große Momente braucht es eben nicht immer auch große Bilder. Kino kann mehr als Optik sein, und manchmal kann auch die innere Einstellung den visuellen Reiz übernehmen. Für die Figuren hat der Augenblick da oben eben etwas ganz Erhabenes und Besonderes. Das reicht.

Das Zentrum des Films ist der Potsdamer Platz, ein inzwischen ziemlich aufgeladener Ort.

Genau das ist auch Gegenstand des Films. Die Prophezeiung, die in diesem Film drin ist, hat sich doch verwirklicht. Wenn die Prostituierte Ruth auf die Baustelle guckt, sagt sie: „Wenn das Ding fertig ist, müssen wir uns schick anziehen, sonst lassen die uns da nicht rein.“ So ist es doch auch. Die Bauarbeiter haben irgendwann ausgedient. Und von wegen „öffentlicher Platz“. Haben Sie schon mal einen Obdachlosen dort gesehen? Jedes Gebäude gehört jemand anderem und hat seine eigene Hausordnung. Um den Weg abzukürzen, wollte ich mal mein Rad durch die Arkaden schieben. Prompt hat mich jemand wieder rausgeworfen.

„Plus minus null“ wurde vor zwei Jahren gedreht, sind Sie nicht verblüfft, wie sich die Stadt mittlerweile verändert hat?

Der Film ist tatsächlich schon ein Zeitdokument, das ist mir klar geworden, als die Verleiher mich nach einem Ort für die Premierenparty gefragt haben. Die Prostituierten- und Zuhälterkneipe „Dillgurke“ musste einem Cocktailclub mit geschlossenen Fenstern weichen, der „Tante Emma Laden“ ist geschlossen. Alle Drehorte sind nicht mehr so, wie sie waren, außer der Kurfürstenstraße mit ihrem Autostrich. Die Baustellen sind natürlich fertig gestellt. Aber das will nichts heißen, Berlin ist immer noch im Umbruch, und Figuren wie Alex, Swetlana und Ruth, die sich ihre Existenz an den Rändern zurechtzimmern, wird es immer geben.

Interview: ANKE LEWEKE

„plus minus null“. Regie: Eoin Moore. Mit: Andreas Schmidt, Tamara Simunovic, Kathleen Gallego Zapata u.a. Deutschland 1997, 81 Min.