Der andere Berlin-Roman

Satanic Rock Thing gegen Soundtapeten für Mitte-Bars: Für Patrick Wagner und seine Band Surrogat ist Ironie wirklich vorbei. Ein paar Widersprüche pro Minute drehen trotzdem mit

Von GERRIT BARTELS

Von wegen Rock. Patrick Wagner hat kein Problem damit, sich morgens um zehn zu einem Interview zu treffen. Er hat auch nichts gegen ein sauberes und helles Café wie das Hackbarth’s in der Augustraße im Berliner Bezirk Mitte, in dem um diese Uhrzeit drei Bauingenieure über ihren Plänen sitzen, ein Makler seine Papiere ordnet und alle paar Minuten ein Handy klingelt.

Schaut man sich Wagner an, wie er mit leicht zerzausten schwarzen Haaren, dunkelblauer Thermojacke, blauer Polyesterhose und schmutzig-weißen Turnschuhen das Café betritt, wirkt er wie ein Fremdkörper in dieser Umgebung. Da erkennt man in ihm zumindest vom Outfit her sofort einen Menschen, der in Berlin-Mitte einer immer kleiner werdenden Spezies angehört.

Weniger geschäftig aber ist er nicht. Als er sich setzt, spricht er davon, „überhaupt keine Zeit“ mehr zu haben, „total nervös“ zu sein und „extrem wenig“ zu schlafen. Der Grund: Das neue Album seiner Band Surrogat, das den ebenso unmissverständlichen wie vieldeutigen Titel „Rock“ trägt und heute auf seinem eigenem Label Kitty-Yo veröffentlicht wird.

„Das ist wie mit vierzehn, ich bin wahnsinnig aufgeregt“, sagt Wagner, ohne dass man ihm das in diesem Moment ansehen würde. „Da ist alles drin, was ich als Mensch, auf Konzerten und bei Kitty-Yo immer versprochen habe. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, alles gesagt zu haben, nichts mehr erklären zu müssen.“

Das tut er dann aber gern und ausgiebig, da lässt er im folgenden Gespräch fast nichts aus, und da merkt man ihm die Aufregung dahingehend an, dass die Worte und Sätze nur so aus ihm heraussprudeln: „Mensch, die von der Spex machen eine Titelgeschichte, und zwischendurch waren wir im Gespräch, Album des Monats beim Rolling Stone zu werden, das muss man sich mal vorstellen, wo diese Platte hingeht, in so große, konservative Medien, da sind sie voll ausgerastet beim Vertrieb, und dann sagt Jochen Distelmeyer noch, dass diese Platte einen Einschnitt macht, dass die mit allem aufräumt und er wegen ihr drei Texte von seinen neuen Stücken rausgeschmissen hat. Das ist ja wirklich so, dass der voll euphorisch und begeistert ist und sich dafür interessiert und ihn das voll vereinahmt und er dann schlechter schläft.“

An AC/DC andocken

So Wagner im Schnelldurchlauf über erste Resonanzen auf „Rock“ und über Jochen Distelmeyer von Blumfeld. Der Maniac in Patrick und der Patrick im Jochen und umgekehrt: Begeisterungsfähigkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften von Wagner. Mit dieser weiß er sein Umfeld anzustecken, mit dieser arbeitet er, und das nicht ohne Erfolg. Von dieser Begeisterungsfähigkeit lebt Wagner aber auch selbst, die trägt ihn durch Tage und Jahre und geht mit ihm zuweilen auch einfach durch.

Allerdings nicht auf „Rock“, dem neuen, vierten Surrogat-Album, das Wagner zusammen mit Tilo Schierz am Bass und Maj-Linh-Truong an den Drums einen Monat lang in Tobias Levins Studio in Hamburg eingespielt hat. Zehn Stücke mit einer Spielzeit von nur 33 Minuten, zehn Stücke, die Titel wie „Gib mir alles“, „Rocker“ oder „Berlin liebt dich“ tragen. Und die, das sagt Wagner wirklich, „zuerst an AC/DC andocken und Indieformatrock wie Miles, Readymade und Liquido wegwischen sollten“.

Kurz und bündig ist das Album, ein kompaktes, dichtes, irgendwie handliches Album, das ohne Durchhänger von Anfang bis Ende voller Kraft und Energie steckt. Dasselbe bei den Texten: „Wir sind wir, wir sind die, die es gibt, wir sind wir, wir sind die Größten“. Oder: „Und ich hab Kraft / Und ich bin stark und ich bin für Dich da“. Oder: „Du lächelst, ich bin glücklich, wir haben viel viel vor“. Kein Wort zu viel, alles selbstbewusst, alles auf den Punkt, von wegen Surrogat von Rock, von wegen „Hobby“ (Titel des 97er Surrogat-Albums).

Tatsache ist, dass für Surrogat die Ironie wirklich vorbei ist. Dass sie trotz Coverart (drei Musiker im Feuer) und gefaketem Bonfire-Presse-Info das mit dem Rock sehr ernst meinen. Wagner erzählt, Bassist Tilo Schierz habe in einem Interview auf die Frage nach seinem Input geantwortet, ihm gehe es tatsächlich nur um Energie und Rauslassen, was ja meist nur am Rande interessiere: Rock is a satanic drug thing, you wouldn’t understand.

Für Wagner selbst geht es noch um ein paar Umdrehungen mehr. Da verschwindet er erst mal, um noch Zigaretten zu holen, und legt dann los; spricht von „lange schwelenden Unzufriedenheiten“, von „Aufruhr“ und „Zorn“, „Klarheit“ und „Aufbruch“. Und davon, „dass wir ja alle irgendwie etabliert sind, total free und mit Spaß unsere 16-Stunden-Jobs machen“, es aber trotzdem diese „Leerstellen“ gebe.

Das kennt man zwar im Zusammenhang mit Rock ’n’ Roll zur Genüge – Wagner weiß um die Authentizitätsfallen („Nein, das soll es jetzt ja auch nicht sein“) – trotzdem setzt er nach: redet von diesen ganzen „aufgeblasenen Kulturevents“, von der „Kulturlinken, die jetzt da ist, wo sie nie sein wollte“, schimpft auf einen wie das Pop-Chameleon Beck: „Da ist ja gar nichts mehr, der ist ja nur noch Hülle.“

Utopie und Kitty-Yo-Umbruch

Und redet so über sich und seine Angst, von der Wirklichkeit ein zweites, drittes Mal überholt zu werden: Vor zehn Jahren kam Wagner aus der badischen Stadt Wörth am Rhein das erste Mal nach Berlin, kurz nach dem Mauerfall: „Da war in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain noch alles vernagelt. Irgendwie war klar, dass man hier Leute trifft, die was machen wollen.“

So fing er kurz darauf an, in Berlin Jura zu studieren und nebenbei Musik zu machen. Mitte der Neunziger traf Wagner den aus Ostberlin stammenden Raik Hölzel. Der schlug ihm vor, ein Label zu gründen, um darauf ein Album von Surrogat zu veröffentlichen. Von wegen aber Rock: Aus Kitty-Yo wurde ein Label, das vielen in Berlin die Hoffnung zurückgab auf eine Musik jenseits der Neubauten, Brötzmann und Kreuzberger Punk- und Crossoverbands. Mit Platten von Kante, Couch, Tarwater und To Rococo Rot veröffentlichte Kitty-Yo Musik, deren Grundlagen elektronisch waren. Mit Bands wie Laub oder Go Plus machte man sich um eine neue Innerlichkeit verdient: Lieber einmal mehr „Ich“ sagen als zum x-ten Mal die Luftgitarre spielen. Das Wichtigste aber war: Gemacht wird, was Spaß macht, ans Geld verdienen dachten Wagner und Hölzel zuallerletzt.

Das war Wagners Wirklichkeit, das war sein Berlin, in dem eine Menge ging und das nichts zu tun hatte mit diesem unwirklichen Behütetsein in der gutbürgerlichen Elternwelt. Mittlerweile aber hat sich nicht nur in Berlin, sondern auch bei Kitty-Yo die Welt verändert, die Zeiten des Umbruchs nähern sich langsam, aber sicher ihrem Ende.

Wagner sagt, dass er mit „Rock“ auch eine „Gretchenfrage“ gestellt habe: „Will mein eigenes Label eigentlich mit dieser Platte etwas zu tun haben?“ Da hätte es Aussprachen darüber gegeben, wo man denn nun eigentlich stehe: „Mittlerweile geht es ja auch bei uns darum, welche Platten Geld einfahren, welche nicht. Mit den deutschsprachigen Platten tun wir das überhaupt nicht. Kitty-Yo, da wird mir Raik vielleicht böse sein, veröffentlicht ja zuletzt mit Acts wie Raz, Gonzales und Tarwater im weitesten Sinne auch Werbermusik.“

„Rock“ wirkt nun wie ein Statement dagegen, ein Album, das die Wirklichkeit wieder ins Haus bringen soll: Haudrauf, erst zurück und dann nach vorn. Wagners Leben und dieses Album sind ein Berlin-Roman der anderen Art. Bloß hieß es für Wagner irgendwann, wieder raus zu kommen aus diesem plötzlich falschen Roman. Gegen die neuen Lebenswelten im neuen Berlin, (die sowieso nur für wenige gelten und für die anderen eher negative Folgen haben), zurück ins Leben. Rock versus Soundtapeten für Mitte-Bars.

Dass man bei Kitty-Yo die Rumpelbude in der Torstraße gegen einen Plattenbau eine Straße um die Ecke getauscht hat, passt ins Bild. Genauso, dass Wagner mittelschwere Krisen bekommt, wenn von ihm als „Jungunternehmer“ die Rede ist, er mit Leuten wie Marc Wohlrabe oder Sascha Wolf in einem Atemzug genannt wird oder er eher verpeilt neben einem Mann wie Tim Renner im Radio sitzt: „Bei dem bekommt man ja das Grausen, das ist ja ein Immer-und-überall-Typ, total sicher, totale Maschine-Maschine. Der wusste alles über mich, ich wusste nicht mal, dass der bei Universal ist.“

Doch Wagner wäre nicht Wagner, wenn sich bei ihm nicht noch ein paar Widersprüche pro Minute mitdrehen würden: „Wir sind jetzt am Start, hier, in Berlin. Der Erfolg kommt, ohne dass wir uns krampfhaft drum bemüht haben. Was wir bei Kitty-Yo haben, haben die Majors im Leben nicht.“ Oder: „In meinem Horoskop steht, ich solle in der Unterhaltungsbranche arbeiten.“ Oder dass er sich wie ein Schneekönig darüber freut, dass Gonzales als erster Kitty-Yo-Act in England in die Charts einsteigt: Da können Surrogat dem Gonzales noch so „in den Arsch treten“, wie er das ein paar Minuten vorher verkündete. Grenzen ziehen, Widersprüche aushalten, durchstarten: DJ Wagner und seine Welt.

Als das Gespräch nach zwei Stunden abgebrochen werden muss, ist er fast ein wenig enttäuscht. Draußen auf der Auguststraße, zwischen zwei Baustellen, muss er aber noch eine Geschichte erzählen. „Tobias Levin lässt gerade sein Studio ausbauen, und einer von den Arbeitern, einer der uns überhaupt nicht kennt, hat an einem Aufnahmetag unser Album mitgehört. Nach dem zweiten Stück spielte er Luftgitarre, nickte dazu mit dem Kopf und machte immer duffff, dufffff, duffffff. Der war einfach begeistert! Das ist es doch, das ist doch total geil!“ Solcherart begeistert, verschwindet Wagner dann nach rechts in die Kleine Hamburger Straße Richtung Kitty-Yo-Büro. Rock? Rock!