Freundschaft zweier Riesen

Am Montag wird Helmut Kohl siebzig Jahre alt. Eberhard von Brauchitsch, der einst mächtige Flick-Manager, wird ihm vermutlich nicht gratulieren. Dabei waren sieeinst eng befreundet. Skizzen aus dreißig Jahren bis hin zur verlorenen Nähe zwischen zwei Männern

von CHRISTIAN SEMLER

Für jedes Vorhaben unter dem Himmel gibt es eine Zeit, wie uns das Alte Testament in den „Predigern“ belehrt. Für Eberhard von Brauchitsch ist jetzt nach den Jahren der Demütigung und des Zorns die Zeit der Abrechnung gekommen. Er hat lang genug gelebt, um Helmut Kohls Fall auszukosten, von seinem Züricher Alterssitz her, dem Ort seiner freiwilligen Emigration. Sein Memoirenbuch „Der Preis des Schweigens“, erschienen im Spätsommer vorigen Jahres, nimmt sich heute wie ein Präludium zur CDU-Spendenaffäre aus. Und aus dem fast vergessenen, einst mächtigen Manager des Flickkonzerns und verurteilten Steuerhinterzieher ist ein begehrter Zeitzeuge geworden.

Worüber schwieg Herr von Brauchitsch, und was war der Preis, den er für sein Schweigen bezahlt hat? So ganz genau weiß es der Leser auch dann nicht, wenn er Brauchitschs Memoiren mit angespitztem Bleistift gelesen hat. Aber so viel steht fest: Als ihm in den Achtzigerjahren der Prozess wegen Bestechung und Steuerhinterziehung gemacht wurde, schwieg Brauchitsch beharrlich darüber, was die Politiker über die Herkunft der Gelder aus den Steuerwaschanlagen des Flickkonzerns wussten, warum sie es bevorzugten, Barzahlungen entgegenzunehmen, warum auf Quittungen verzichtet wurde und vor allem, ob die Spenden aus der schwarzen Kasse des Konzerns mit stillschweigenden Gegenleistungen verbunden waren. Warum schwieg Brauchitsch?

Heute sagt er, sein Charakter habe ihn daran gehindert, auszupacken, zu „plaudern“. Es hätte ihm einfach nicht gelegen, Politiker zu erpressen. Vielleicht wollte er weiter mitspielen, das große Rad drehen, dem endlich an die Macht gekommenen Freund Helmut Kohl klarmachen, dass, was den Unternehmern frommt, auch für Deutschland gut sein müsse.

Wie grausam ist von Brauchitsch enttäuscht worden! Seit Kohl in den ersten zwei, den Skandaljahren seiner Regierungszeit, selbst ins Visier des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Flickaffäre geriet, hielt er Distanz zum Freund. Keine Einladungen mehr zu vertraulichen Gesprächen, keine offenherzigen Informationen über den Seelen- und Geisteszustand der CDU. Selbst als von Brauchitsch nach der Deutschen Einheit seine geballten Managererfahrungen für den „Aufbau Ost“ zur Verfügung stellen wollte, wurde er nicht in Gnade aufgenommen.

Erst als Kohl der Tatsache gewahr wurde, dass der Freund seiner früheren Jahre in der guten Gesellschaft wieder gelitten war, bekam von Brauchitsch via Treuhand einen Posten im sächsischen Braunkohlechemierevier. Keine Geste der Wiedergutmachung, so der reaktivierte Pensionär, sondern schierer Opportunismus. Freundschaft? „Kohl hat sich stets nur an der Bedeutung und der Macht des anderen orientiert“, sagte er kürzlich dem Tagesspiegel gegenüber.

Hat von Brauchitsch jemals Grund gehabt, anders über Helmut Kohl, den Politiker, zu denken? Als er den jugendlichen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz vor mehr als dreißig Jahren kennenlernte, anlässlich einer Großinvestition von Daimler-Benz im pfälzischen Wörth, sah er sofort, dass hier ein Rohdiamant funkelte, ein noch etwas ungeschliffener Volkstribun, der mit „den Massen“ fühlte und dachte. Brauchitsch sah sich allerdings von der ungestüm Freundschaft einfordernden Riesengestalt förmlich erdrückt.

Selbst ein Hüne, wusste er um die Besitz ergreifende Gewalt der schieren Körpergröße und hatte frühzeitig gelernt, klaustrophobische Empfindungen beim Gegenüber zu vermeiden, zum Beispiel indem er den Aufenthalt an offenen Türen unterließ. Schon beim ersten Hausbesuch bei von Brauchitsch beharrte Kohl darauf, die dortigen Bilder umzuhängen. Ein zierliches Bild des zierlichen Menzel in den Händen des ungeschlachten Riesen – von Brauchitschs Familie reagierte indigniert. Aber trotz dieser Irritationen entwickelten sich enge Beziehungen. Frau Kohl suchte Rat bei von Brauchitschs Frau, wenn ihre beiden Söhne sie vor Probleme stellten. Herzlichkeit übertönte die Klassenunterschiede.

Hätte der Manager damals über das Verhältnis von Politik und Privatheit nachgedacht, ihm wäre aufgefallen, in welch dichter Weise sich „das Politische“ und „das Private“ bei seinem neuen Freund verwoben. Wie wenig ihm, ganz anders als bei Kurt Biedenkopf, der politische Raum als Ort rationalen Kalküls galt, wie wenig er trennte zwischen Person und Gemeinwohl. Wie er sich auch um demokratische Institutionen, um den Geist der Verfassung, um republikanische Würde wenig scherte.

Aber trotz vielfacher Bekundungen der Achtung vor Rechtsstaat und Demokratie war von Brauchitschs Haltung von der Kohls so fern nicht. Und trotz seiner preußisch-aristokratischen Herkunft – in seiner Familie finden sich viele Staatsdiener und Offiziere – war er kein Freund kühler Distanz und nüchterner Objektivität bei der Einschätzung der Gefechtslagen. Wenn überhaupt, hielt er es mit Blücher: draufschlagen! Von Brauchitsch war nicht nur Fan der Pferdedressur, er liebte auch plebejischen Sport, Fußball, Boxen, in letzterer Disziplin übte er sich selbst – als Amateur.

Sein politischer Stil war hemdsärmlig, unmissverständlich, er gebot über klare, schwarzweiß konturierte Feindbilder. Unter Willy Brandt, selbst noch unter Helmut Schmidt, sah er den Sozialismus heraufziehen, wie er es auch als erste, leider von Kohl als Kanzler nur halbherzig angegangene Aufgabe ansah, den von der sozialliberalen Koalition praktizierten Sozialismus zu tilgen.

Noch als Pensionär schwadronierte er über die jüdische Geldgier in Sachen Widergutmachung und Entschädigung der Zwangsarbeiter und kritisierte, man hätte den Russen bei deren Abzug aus der DDR nicht Milliardenbeträge nachwerfen sollen – von dem Geld sei sowieso nichts an der richtigen Stelle, nämlich beim Wohnungsbau für die demobilisierten Soldaten, angekommen. Selbst die Generationsablösung bei den Unternehmerverbänden in Rechnung gestellt, wird einem schlecht bei dem Gedanken, dass Brauchitschsche Maximen nach wie vor den Unternehmereinfluss auf die Politik bestimmen könnten.

Eberhard von Brauchitsch hielt sich für die Verkörperung des realen Gesamtkapitalisten. Spitzenfunktionär des Unternehmerlagers, womöglich ideeller Erbe des 1977 ermordeten Hanns-Martin Schleyer, konnte er nicht werden. Der Parteispendenskandal brach über ihn herein. Für einen Konzern wie den von Flick nahm er es als Recht in Anspruch, privilegierten Zugang zu Informationen zu erhalten, die richtigen Leute zu fördern und die richtigen Projekte auf den Weg zu bringen.

Die Parteispendenpraxis des Hauses Flick, die von der Spätphase der Weimarer Republik über das Naziregime bis zur Gründung der „Staatsbürgerlichen Vereinigung“ in der frühen Bundesrepublik reichte, erscheint bei von Brauchitsch auch aus der Rückschau vollständig tadelfrei. „Die Wirtschaft“ musste der abirrenden „Politik“ einfach den richtigen Weg weisen.

Er hat in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren unbeirrt am politischen Talent Kohl festgehalten, selbst wenn die Präferenzen des alten Flick und seines Sohnes Friedrich Karl eher Franz Josef Strauß galten. Strauß fand das nicht so gut. Als von Brauchitsch in Salzburg ohne Kohls Begleitung auf Strauß traf, meinte dieser maliziös, der Manager käme ihm vor wie Peter Schlemihl ohne seinen Schatten. Von Brauchitsch ließ sich auch nicht beirren, als Kohl in seiner zweitbittersten Stunde hinter dem Bayern bei der Kanzlerkandidatur 1980 zurückstehen musste. Scharfsinnig erkannte er, dass trotz der Misere der sozialliberalen Koalition nur Kohl eine wirkliche Chance bei Bundestagswahlen hätte.

Freilich galt es, noch an Kohl zu feilen. Hatte der doch, zweifellos unter dem Einfluss linkskatholischer Einflüsterungen, zu Beginn ihrer Freundschaft gefragt, wie viele Wähler eigentlich die Unternehmer mobilisieren könnten. Das roch ja geradezu nach Stalins „Wie viele Divisionen hat der Papst?“

Über 500.000 Mark in bar und ohne Quittung hat Helmut Kohl im Lauf einiger Jahre von seinem Gönner entgegengenommen. Wie mag das stillschweigende Geben und Nehmen zwischen den beiden Freunden ausgesehen haben? Otto Schily war indiskret genug, das bei Kohls Einvernahme durch den Untersuchungsausschuss des Bundestages genau wissen zu wollen. Aus den Notizen und Kurzmitteilungen, die von Brauchitsch pedantisch verfertigte und die der Justiz (auch der Presse) in die Hände gerieten, fällt manchmal, sekundenlang, etwas Licht auf Mentalität und politischen Stil. Als es darum geht, die Besteuerung des Gewinns aus dem Verkauf von Flicks Daimleranteil zu vermeiden, sagt Helmut Kohl als Oppositionsführer zu, „dass er für die Partei und Carstens/Stücklen für die CDU/CSU sicherstellen, dass nicht von Links-CDU-Seite das 6b-Thema [d.h. die Steuerbefreiung bzw. Stundung, C.S.] politisch für uns negativ emotionalisiert wird“. In von Brauchitschs Worten: „dass das Ding nicht auch noch aus seiner eigenen Partei mit angereichert wird“.

Von Brauchitsch endet: „Kohl wird das Seine veranlassen.“ Suum cuique. In seinem Sondervotum zum Bericht des Untersuchungsausschusses stellt Otto Schily lapidar fest, nach diesem Gespräch samt anschließender Geldübergabe sei aus den Reihen der Union kein Widerstand mehr laut geworden gegen die Steuerbefreiungsaktion.

Oder noch einfacher. Kohl kündigt telefonisch an: „Juliane kommt.“ Die vertraute Sekretärin des CDU-Chefs, Juliane Weber, legt kurz dar, warum zur Unterstützung welches Kohlparteigängers Bares nötig sei. Von Brauchitsch weist den Chefbuchhalter an. Der notiert „wg. Kohl 30.000“. Das Kuvert wird übergeben, der Inhalt nicht nachgezählt. Man vertraut sich. Später kann Kohl sich an solche Details nicht erinnern.

Auch von Brauchitsch geizt heute noch mit solchen Details. Er zieht es vor, sich nachträglich angesichts Kohls ungeschlachter, vor allem lauter, viel zu lauter! Art zu ekeln. Aber eine Information hat er doch lanciert, die jetzt, nach einer Strafanzeige der Bündnisgrünen, auch den Staatsanwalt interessieren dürfte. Es geht um einen Besuch Wolfgang Schäubles bei dem gestrauchelten Manager. Es geht um die dringliche Bitte, bei Aussagen alles auszusparen, was Kohl in ein schiefes Licht setzen könnte.

Wird mit dem Adlatus Schäuble auch sein ehemaliger Meister doch noch vor die Schranken des Strafgerichts zitiert werden, ganz so, wie es von Brauchitsch widerfuhr? Das wäre das letzte Kapitel ihrer Freundschaft. Von Brauchitsch, der einst Gedemütigte, sehnt es herbei.

Eberhard von Brauchitsch: Der Preisdes Schweigens, Propyläen, Berlin 1999, 304 Seiten, 44 MarkCHRISTIAN SEMLER, 61, taz-Autor seit 1989, lebt in Berlin.