Khaled hat keinen Krankenschein

Kostenlose Behandlung: Die Hamburger Beratungsstelle für Flüchtlinge und MigrantInnen hat ein Netzwerk von MedizinerInnen gebildet, die Illegalisierte nicht nach der Versichertenkarte fragen  ■ Von Elke Spanner

Khaled* blickt schüchtern zur Decke und wäre am liebsten gar nicht da. Es ist anstrengend, immer unauffällig zu sein. Und dann diese Situationen, in denen es ohnehin nicht mehr geht. Da muss er aus der Deckung kommen, und, was noch schwieriger ist, um Hilfe bitten. Jetzt ist eine solche Situation. Khaleds Knie ist kaputt und tut verdammt weh. Eine Bandage kann die Schmerzen lindern, aber nicht kurieren, dafür müsste er zur Krankengymnastik. Also erst zum Orthopäden, Überweisung holen, und dann zur nächsten Praxis humpeln. So sehen die Krankenkassen den Ablauf vor. Aber Khaled hat keine Krankenkasse. Khaled hat auch keinen Krankenschein. Der Syrer lebt illegal in Hamburg.

Jetzt heißt es, mit Bedacht vorzugehen. Bloß keine Panik zeigen, denn Panik fällt auf. Schritt eins: Sich eingestehen, da ist kein kleines Wehwehchen, da ist ein Problem. Schritt zwei: Vertrauen aufbringen und Hilfe suchen. Vielleicht trifft er auf jemanden, der nicht die Polizei rufen geht. Vielleicht gibt es einen Arzt, der ohne Krankenschein behandelt. Vielleicht aber auch nicht.

Die Kassen bewerben sich selbst mit der Behauptung: „Gesundheit geht uns alle an.“ Doch wer nicht zahlt, fällt aus der sogenannten Solidargemeinschaft raus. Das Problem wird auf die Flüchtlinge und einzelne ÄrztInnen abgewältzt, die für sich entscheiden müssen, ob sie im Einzelfall auf Kostenerstattung verzichten.

Die „medizinische Beratungsstelle für Flüchtlinge und MigrantInnen“ hat ein Netzwerk von Hamburger MedizinerInnen aufgebaut, die sich dazu bereit erklärt haben. Den Gang in eine Praxis, das Gefühl, Bittsteller zu sein und abweisende Blicke zu ernten, können zwar auch die BeraterInnen den Flüchtlingen nicht ersparen. Denn sie sind keine ÄrztInnen, die selbst behandeln, sondern ehrenamtliche Privatleute, die weiterverweisen. Aber sie haben eine Kartei mit Praxen, die nach Absprache nicht nach der Versichertenkarte fragen, sondern statt des Namens der PatientInnen im Terminplaner „Beratungsstelle“ eintragen.

Drei Stunden pro Woche hat die Beratungsstelle geöffnet, doch oft sitzen die jeweils zwei BeraterInnen sehr viel länger in ihrem Büro im „WIR-Zentrum“ in Altona. Aus 50 Praxen besteht das Netz aus ÄrztInnen, KrankengymnastInnen und HeilpraktikerInnen. Das ist zu dünn. Es mangelt noch an MedizinerInnen fast aller Fachrichtungen, GynäkologInnen, NeurologInnen, ChirurgInnen, ZahnmedizinerInnen. Manche haben sich bereit erklärt, einmal pro Woche umsonst zu untersuchen, andere nehmen zwei Mal im Monat einen Patienten ohne Krankenschein an. Und immer wieder springen welche ab. „Aus berechtigten Gründen“, sagt Beraterin Gudrun F. „Das Problem ist so groß, dass es nicht von Einzelnen zu tragen ist.“

Ehe sie Khaled die Adresse einer Krankengymnastin mitgeben können, rufen die beiden BeraterInnen mehrere Praxen an. Besetzt, neu versuchen. Eine Sprechstundenhilfe vertröstet auf morgen. Die nächste Praxis ist langfristig ausgebucht. Das Organisieren der Behandlung dauert länger als die Behandlung selbst. Khaled ist der Aufwand peinlich. Er lächelt verlegen, als wolle er sich für seine Erkrankung entschuldigen.

Viele Illegalisierte wagen gar nicht erst, sich an die BeraterInnen zu wenden. Oder erschrecken, wenn diese sie zu ÄrztInnen weiterschicken wollen. Gudrun F. erzählt von einem Mann, der kürzlich für seine Freundin anrief. Die ist im achten Monat schwanger, hat seit zwei Wochen Blutungen und Angst um sich und ihr Kind. Eindringlich habe sie ihm zugeredet, umgehend mit der Frau zu einer Notambulanz zu fahren. Dort würde man ihr helfen, und für Schwangere ab dem siebten Monat sei es möglich, bis kurz nach der Entbindung den Aufenthalt zu legalisieren. Er schien erleichtert über die Auskunft. Seine Freundin aber rief verängstigt aus dem Hintergrund, dass sie auf keinen Fall ins Krankenhaus fahren werde, sie habe Angst vor der Polizei. Damit endete das Gespräch.

Die BeraterInnen sagen, so kann es nicht weitergehen. Der Andrang ist zu groß, das Netz der bereitwilligen ÄrztInnen zu dünn. Eine politische Lösung müsse her, damit nicht in jedem Einzelfall um die medizinische Versorgung gekämpft werden müsse. Laborkosten trägt die Beratungsstelle durch Spenden, aber die werden knapp. Und mindestens einmal die Woche gibt es einen Fall, der dringend im Krankenhaus behandelt werden müsste – und oftmals nicht wird. Denn wer Angst vor Entdeckung hat, bagatellisiert lieber seine Erkrankung, als sich in eine Institution zu begeben. Den dortigen ÄrztInnen ist die psychische Belastung dieser PatientInnen zumeist nicht bewusst, und zudem entstehen leicht Kosten in Höhe von mehreren tausend Mark. „Der Großteil der Behandlungen, die im Krankenhaus durchgeführt werden müssten“, so Gudrun F., „findet nicht statt.“

Krankenhäuser, Gesundheitsbehörde und Ärztekammer reagieren verwundert auf den Hinweis auf das Problem, als wenn nicht sein könne, was nicht sein darf. In der Hamburger Ärztekammer haben sich die Gremien mit der Versorgung von Kranken ohne Schein laut Sprecher Wolfram Scharenberg noch nicht befasst. Siegmar Eligehausen, Sprecher des Landesbetriebes Krankenhäuser (LBK), ist überzeugt, dass auch nichtversicherte PatientInnen „selbstverständlich gut behandelt werden“. Im Notfall vertraut man darauf, dass sich ÄrztInnen an ihren hypokratischen Eid erinnern und die PatientInnen behandeln werden, Kos-ten hin, Kosten her.

Der Notfall ist ohnehin gesetzlich abgesichert. ÄrztInnen müssen die „unabweisbar notwendige Hilfe“ erbringen. Doch jenseits der Lebensgefahr beginnt die Grauzone. Schon bei der Entscheidung, was als unabweisbar gilt, wird mit zweierlei Maß gemessen. Gudrun F. hatte eine Frau in der Beratung, der dringend Krebs-Metas-tasen entfernt werden mussten. Ein Notfall. Sie konnte eine Klinik finden, die sich zur Operation bereit erklärte. Üblicherweise werden PatientInnen anschließend fünf Tage auf der Station weiterbehandelt, bis die Wunde verheilt ist. Diese Ghanaerin wurde am Tag nach der Operation vor die Tür gesetzt. Sie bekam so starke Blutungen, dass sie ein zweites Mal eingeliefert werden musste – wieder als Notfall.

Wo die Grauzone beginnt, steigt die Politik aus dem Thema aus. Einen Topf ,etwa der Sozial- oder Gesundheitsbehörde, gibt es nicht. Die unterhält nur speziell für Prostituierte eine Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten, die auch von ausländischen Huren ohne Versichertenkarte aufgesucht werden kann. Die Untersuchung aber dient nicht primär deren gesundheitlicher Versorgung, sondern durch das Angebot soll die Verbreitung von Krankheiten in der Bevölkerung verhindert werden.

Dabei hat sich das Problem zusätzlich verschärft durch die Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Seither ist die Gesundheitsversorgung auch von geduldeten Flüchtlingen auf ein Minimum beschränkt. Wer im Asylverfahren ist, darf nur zum Arzt, wenn die Krankheit akut und schmerzhaft ist. Nicht behandelt werden etwa chronische Erkrankungen. Ein junger Iraner etwa sucht die Sprechstunde auf, weil seine Sehkraft nachgelassen hat. Bei einem Deutschen würde niemand überlegen, ob er moralisch das Recht für sich in Anspruch nehmen kann, eine stärkere Brille zu verlangen, oder nicht solange warten sollte, bis er kurz vor der Erblindung steht und als „akuter Notfall“ gilt. Das Asylbewerberleistungsgesetz spricht Flüchtlingen dieses Recht ab. Die „medizinische Beratungsstelle für Flüchtlinge und MigrantInnen“ nicht. Der Iraner bekommt die Adresse eines Augenarztes.

Eine Chilenin kommt mit einer Freundin in die Beratung, weil sie selbst nicht mehr sprechen kann. Seit zwei Wochen hat sie Zahnschmerzen, starke sogar, weil wahrscheinlich ein Stück aus einer Krone rausgebrochen ist. Gudrun F. bekommt einen Termin bei einem Zahnarzt für sie. In zwei Wochen erst. Weitere zwei Wochen Schmerzen. Die Frau ist trotzdem erleichtert. Eine andere Wahl hätte sie ohnehin nicht gehabt.

Interessierte (auch ohne medizinische Kenntnisse) und ÄrztInnen sind gerne gesehen. Medizinische Beratungsstelle, WIR-Zentrum, Hospitalstr. 109. Mo. 15-18 Uhr. Tel.: 385 739. Spendenkonto: Hamburger AK Asyl, Stichwort „Medizinische Flüchtlingshilfe“, Postbank BLZ 20010020, Kto. 621976-209.

*Alle Fälle wurden anonymisiert