SPD macht müde Wähler munter

Mehr Mitbestimmung der Bürger in und außerhalb der SPD will Generalsekretär Müntefering. Ein Mittel dazu seien „Primaries“ nach US- Vorbild

von CHRISTIAN SEMLER

„Organisation ist Politik“ – mit diesem Satz des lebenslangen Kaderspezialisten Herbert Wehner hat gestern der Generalsekretär der SPD, Franz Müntefering, sein Organisationsreferat auf dem Werkstattgespräch des Parteivorstandes in Berlin eingeleitet. Trotz seines stolzen Bekenntnisses zur Organisationsform Partei stand der Generalsekretär mit dem Rücken zur Wand. Er sei weit davon entfernt, zu glauben, allein Parteien seien Leitplanke und Treibstoff der Demokratie – aber sie seien es eben auch. Und nach diesem Ausflug ins Reich des Straßenverkehrs variierte Müntefehring den berühmten Ausspruch des Bürgerrechtsaktivisten Eldrige Cleaver „Ihr seid entweder Teil des Problems oder Teil der Lösung“. Die Parteien, so Müntefering, „sind nicht das Problem der Demokratie, sondern Teil von ihr und Mittel zu ihrem Gelingen“.

Der SPD macht offensichtlich Sorge, dass im Gefolge der Parteispendenaffären das Publikum der Ansicht zuneigt, die Parteien in ihrem gegenwärtigen Zustand seien tatsächlich das Problem der Demokratie, weshalb ihr Einfluss in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens zurückgeschraubt werden müsste. Dagegen setzt Müntefering die Idee einer Parteireform, die gleichzeitig den grundsätzlichen organisatorischen Aufbau bewahren, sich aber weit öffen will gegenüber den politisch Interessierten, die bislang – zu Unrecht – vor der Eingangstür zum SPD-Gebäude zurückschrecken.

Die Problemstellung selbst ist für die Sozialdemokratie alles andere als neu. Seit sie sich, den tiefgreifenden Änderungen in der Sozialstruktur der Bundesrepublik folgend, zu Ende er 50er-Jahre den Angestellten des tertiären Sektors öffente, hat sie versucht, ihrer Organisation den Ruch des miefigen Arbeitervereins zu nehmen.

Als Partei des technischen Fortschritts und der „Modernität“ mobilisierte sie intellektuellen Sachverstand zwecks Politikberatung, baute die berufs- bzw. alters- und geschlechtsspezifischen Arbeitsgruppen aus, versicherte sich der Unterstützung einer wenngleich unbeständigen Künstlerschar. Aber diese organisatorischen Anpassungen führten nicht dazu, dass die nun in der Partei vereinten unterschiedlichen Gruppen und Milieus samt ihren Interessen und dem unterschiedlichen Grad ihres Engagements tatsächlich angemessen berücksichtigt wurden. Die synthetische Propagandaformel von der „Neuen Mitte“ hat das Problem keineswegs erledigt, nur vernebelt.

Münteferings neue Organisationsapotheke zeigt einige Erfolg versprechende Essenzen, aber der Heilungserfolg bleibt ungewiss. Zu nennen wären da zunächst die beiden Formeln „30 unter 40“, womit ein höherer Anteil an jüngeren Politikern in der Bundestagsfraktion angepeilt ist, sowie „10 von außen“, die die Aufstellung von Parteilosen bei den Bundestagswahlen betrifft.

Beide Maßnahmen haben mehr Show- als Organisationscharakter. Großen Wert legt Müntefering auf die fachliche Qualifizierung der Kandidaten, auf „Politik als Beruf“. So ehrenwert seine Verbeugung vor den spezifischen, notwendigen Talenten der Mandatsträger auch ist: Seine Vorschläge sind eher geeignet, die Berufskrankheiten unserer Parlamentarier zu verstärken: Abkopplung von der „Lebenswelt“, Scheu vor Risiko, Orientierung an Gruppen- und Verbandsinteressen.

Hier nun setzt Münteferings eigentlicher Ideenschub ein. Er möchte – und zwar auf gesetzlicher Grundlage – „Primaries“ für Parlamentskandidaten auf der Wahlkreisebene einführen. Der Vorschlag ist nicht ganz frisch (er stammt von Peter Glotz), aber seine Einführung würde doch zweierlei Novitäten bringen: Nicht nur Parteimitglieder, sondern jeder, der sich in eine entsprechende Liste einträgt, wäre abstimmungsberechtigt. Damit wäre für die Kandidatenauswahl der öffentliche Wettkampf eröffnet. Und die Kandidaten könnten in diesem Wettkampf bisher ungeahntes Profil gewinnen. Für die immer dünner werden Fäden, die Partei und Gesellschaft verbinden, eine möglicherweise heilsame Maßnahme.

Das zweite Heilmittel hat Müntefering, der Organisationszauberer, quasi aus dem Hut gezogen. Er fordert die Einrichtung von Volksentscheiden auf Bundesebene. Dies steht zwar auch im Koalitionsvertrag mit den Grünen, aber da stehen noch viele andere nicht verwirklichte schöne Sachen. Da Müntefering seiner Forderung keinerlei Erläuterung angehängt hat, bleibt nichts übrig, als auf die Vorbedingungen zu verweisen, die Volksentscheide erst attraktiv und effizient machen. Sie hat Herbert von Arnim jüngst in vier Punkten zusammengefasst: wirklich verbindliche Entscheidungen, keine Einschränkung der Themen, faire Quoren für Volksbegehren und Zustimmungsquoten, die keine unüberwindliche Barriere für diese Initiativen darstellen.