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: Schiffbrüche und andere Kleinigkeiten: Romane rund ums Meer

SEELE UND SEE

Das Meer gehört seit Homer zu den unerschöpflichsten Projektionsflächen, und die Grenzenlosigkeit der Ozeane ist immer noch eine der machtvollsten Chiffren für das Dasein. Melville überführte den Mythos des Meeres in die Moderne einer noch intuitiven Psychologie, indem er mit seinen gewaltigen Roman-Phantasmagorien den Meeresspiegel in einen Spiegel der menschlichen Seele verwandelte und damit die Erfahrung innerer und äußerer Meere zur Grundvoraussetzung literarischer Produktion erklärte. „Warum“, heißt es gleich zu Beginn von „Moby Dick“, „warum überlegte der arme Dichter aus Tennessee, als er unverhofft ein paar Silberdollar in die Hand bekam – warum überlegte er, ob er sich den Rock, den er bitter nötig hätte, kaufen oder für sein Geld lieber (...) an den Meeresstrand pilgern solle?“ Weil, so Melville, Wasser und schöpferischer Geist auf ewig miteinander verbunden seien.

Der Vorläufer von „Moby Dick“ war „Mardi und eine Reise dorthin“, ein Sturm von einem Roman, dessen eigentlicher Held das Meer ist. Es steht hier als Sinnbild sich selbst generierender Kraft und wird damit zur Chiffre für den literarischen Produktionsprozess. „Mardi“ ist Melvilles Selbstfindung und Selbsterfindung als Dichter.

Weil aber das Meer so wenig auszuloten ist wie die Psyche, sondern immer nur neu zu er- und befahren ist, strahlt das Sujet nach wie vor ungebrochene Faszination aus – Romane, Erzählungen und Gedichte von Wasser und Meer strömen unablässig an die Gestade des Buchmarkts. Einen Überblick bietet die schöne Anthologie „Meer Geschichten“, aber Anthologien sind, verglichen mit den großen Strömungen von Romanen, natürlich nur eine Ansammlung von Tropfen.

Jean Gionos „Die große Meeresstille“, deutlich von Melville, mehr noch von E. A. Poes „Arthur Gordon Pym“ beeinflusst, ist einer dieser Romane, in denen eine reale Seereise in die Südsee immer mehr zu einer phantasmagorischen Reise ins Nirgendwo, ins Utopische wird. Es ist ein Zufall, aber ein sehr schöner, der deutschen Sprache, dass „See“ und „Seele“ lautliche Schwestern sind. „Darum“, so der letzte Satz in Gionos Roman, „sind alle Männer des Schiffs inständig bemüht, in sich eine Seele zu entdecken.“

So, wie es in der bildenden Kunst die so genannte Marine-Malerei gibt, hat der Stoff auch literarisch zu Genrebildungen geführt. Insbesondere der handfeste Abenteuerroman fährt gern zur See, und wenn die Autoren die maritimen Stimmungen einigermaßen sensibel aufnehmen und umsetzen, wird aus einem eher matten Krimi schnell ein atmosphärisch dichter Roman – so beispielsweise geschehen in Peter Haffs „Das Leuchten von Sainte Marguerite“.

Zu Schiffen und Meeren gehören natürlich Schiffbrüche und versunkene Schätze. Mit seinem Buch „Drei Meilen tief“ erweist sich der Engländer James Hamilton-Paterson einmal mehr als Poet der Sachlichkeit. Denn dieser Roman um Schätze in gesunkenen Kriegsschiffen kommt im Gewand einer Reportage daher, die in der faszinierenden Beschreibung eines vierzehnstündigen Aufenthalts auf dem Meeresboden kulminiert.

Zentrale Kapitel von Julian Barnes’ wunderbarem Roman „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“ handeln von Meerfahrten, nämlich die Geschichte des Holzwurms in der Arche Noah, die Entführung eines Kreuzfahrtschiffs durch palästinensische Terroristen und die Entstehungsgeschichte von Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“. Géricault, und natürlich auch Barnes, machen aus Katastrophen Kunst, weshalb „Das Floß der Medusa“ zum berühmtesten Schiffbruch aller Zeiten wurde.

Schiffbrüchige schwimmen unfreiwillig, aber was Wasser wirklich ist, erfährt man nur schwimmend. Ein leidenschaftlicher Schwimmer ist John von Düffel, der sich bereits mit seinem Roman „Vom Wasser“ als Experte erwies und nun einen Essay mit dem schlichten Titel „Schwimmen“ vorlegt. „Und dann ist es wie immer nach dem Eintauchen und den ersten Metern: Die Fremdheit zwischen Schwimmer und Wasser ist besiegt. Die Züge werden sicherer, bestimmter. Sie fangen an, einander zu gleichen und wiederholen sich immerfort selbst. In dem menschenleeren Becken schwimme ich meine Bahn und gleite dem hereinrauschenden Regen durch die kühlen Finger. Es hat Überwindung gekostet, aber ich wurde vom Wasser noch jedesmal dafür belohnt.“

KLAUS MODICK

Herman Melville: „Mardi und eine Reise dorthin“. btb, 1000 S., 30 DM Jean Giono: „Die große Meeresstille“. btb, 356 S., 18 DM James Hamilton-Paterson: „Drei Meilen tief“. btb, 280 S., 17 DM Peter Haff: „Das Leuchten von Sainte Marguerite“. Diana TB, 267 S., 15 DM Günther Stolzenburger (Hg.): „Meer Geschichten“. dtv, 240 S. 16,50 DM Julian Barnes: „Eine Geschichte der Welt in 10 œ Kapiteln“. rororo, 414 S., 19,90 DM John von Düffel: „Schwimmen“. dtv, 134 S., 15,50 DM