Anthropologie mit Publikum

Stillstand der Erfahrungskunde in Fotografie und Film: Sharon Lockhart hat die Lebensumstände der verschiedenen Communitys im brasilianischen Manaus recherchiert. Jetzt zeigt die Kunsthalle in Zürich ihr „Teatro Amazonas“
von ULF ERDMANN ZIEGLER

Es ist eine These in Mode gekommen, die besagt, es gäbe keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen Kunst und Fotografie. Die Museen sollten die Kategorien nicht mehr trennen. Von Seiten der Kunst ist das Ansinnen begreiflich: Bevor die Fotografie sie gänzlich einsackt, wird einfach der Begriff „Fotografie“ von der Gattungsliste gestrichen. Aus der Sicht der Fotografie bedeutet es immer noch eine Nobilitierung, aber um einen hohen Preis. Das spezifische Interesse der Fotografen an ihrem Gegenstand, der bewusst gewählte Weg der Aneignung durch Abbildung, wird leicht übersehen zugunsten hochfliegender Interpretationen.

Es macht sehr wohl Sinn, eine Fotografie der Fotografen anders anzuschauen als eine Fotografie von Künstlern. Die Fotografen teilen nämlich nicht die Zweifel der Künstler an der Fotografie; sie entwickeln die Fotografie als visuelle Grammatik. Künstler, die mit Fotografie arbeiten – und darin etwas zu sagen haben –, bearbeiten die Voraussetzungen der Fotografie. Dabei werden ihre Wurzeln angesprochen: die private Fotografie (Erinnerung), die gewerbliche Fotografie (Manipulation), die medizinisch-polizeiliche Fotografie (Verwandlung des Menschen in ein Objekt). Eine solche Kunst – technisch gesehen: Fotografie – betreibt Sharon Lockhart, Jahrgang 1964, deren Wanderausstellung „Teatro Amazonas“ heißt, nach ihrer neuesten Arbeit, während es sich eigentlich um eine frühe Retrospektive handelt, jedenfalls im Ansatz.

In der Zürcher Kunsthalle beginnt sie mit zwei Bildern, die bei gleicher Einstellung der Kamera das Gesicht eines Mädchens und eines jungen Mannes zeigen: „Lily, etwa 8 Uhr morgens, am Pazifik“ (man sieht hinter ihr das blaue Meer) und „Jochen, 8 Uhr abends, an der Nordsee“ (man sieht hinter ihm die graue See). Durch die 12-Stunden-Differenz wird die Geschichte der Königskinder evoziert, die „zueinander nicht kommen“ konnten. Mit ein bisschen Grübeln taucht schnell die Frage auf, ob die beiden sich überhaupt kennen. Lily, mit ihren Pickeln, in der Morgensonne, und Jochen, gewaltsam frisch rasiert, bleich, im norddeutschen Nichtlicht: Die Zusammengehörigkeit wird über die Konstruktion eines Zeit-Raum-Symbols suggeriert. Wer Lockharts Intrige wider das Anekdotische langweilig findet, darf bei der Beantwortung der Frage behilflich sein, ob es sich bei den 8-Uhr-Bildern um Porträts handelt. Sind Lily und Jochen nicht eher Darsteller im Naturtheater, Repräsentanten einer verwegenen Idee in zwei Hälften? Man muss sie nur mit den markanten „Beach Portraits“ der Fotografin Rineke Dijkstra vergleichen, um zu sehen, wie Lockhart die Magie der Begegnung, die zum Porträt führt, unterdrückt, ausbrennt, negiert.

Reisen am Aripuana-Fluss

Man kann es kaum erkennen, aber es hilft zu wissen, dass Lockhart in der Tat gar keinen fotografischen Apparat bedient. Sie führt einen „Kameramann“ mit sich, der Aufnahmen macht. Das gilt auch für ihre Reise an den brasilianischen Aripuana, bei der sie flussauf und flussab siebzehn Tage einer Anthropologin folgt. Die ärmlichen Veranden und Unterstände, in denen die „Interviews“ stattgefunden haben, lässt sie in schlichter Form dokumentieren – ohne Leute.

Daneben stellt sie Zitate aus den spärlichen Familienalben, Gruppenaufnahmen reisender Fotografen, die ihr Handwerk wohl nicht beim Handwerker gelernt haben. Auf die systematische Anthropologie pappt Lockhart also eine andere. Man muss natürlich an berühmte ethnologische Projekte denken, wie das Buch über die armen Südstaatenfarmer von Walker Evans und James Agee („Let Us Now Praise Famous Men“, erschienen 1941), oder Cornell Capas und Matthew Huxleys „Farewell to Eden“ über die Amahuaca im Grenzland von Peru und Brasilien (erschienen 1964). Lockhart greift sogar direkt zurück auf Walker Evans, indem sie in einer weiteren Serie, entstanden auf der Insel Apeú-Salvador, Familienbilder in ärmliches Ambiente stellt. Nur dass sie dem Betrachter den ethnologischen Kontext, auf dem ihre Arbeit wiederum gewachsen ist, entzieht und somit fast karikaturhaft den Umstand ausstellt, dass wir in den Fotografien von Evans/Capa sehen, was wir aus den Texten von Agee/Huxley wissen. Laut Katalogautor Timothy Martin betreibt Lockhart „eine Art des Sehens, das sich seiner Quelle niemals sicher ist, weil es (...) hinter einem phantomhaften Element her ist, das vielleicht auberhalb seiner Reichweite liegt“.

Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf einen sehr merkwürdigen Film, der im Opernhaus von Manaus – Brasilien – entstand. (Die bizarre Location fand sie durch Werner Herzogs „Fitzcarraldo“.) Bei stehender Kamera sieht man ein Publikum von rund 300 Leuten zu einem ohrenbetäubenden Sound (Glocken? Orgel?), als der Film beginnt. Ein gewisse Unruhe im Saal legt nahe, dass die Vorführung bald, aber nicht sofort beginnen wird. Die Lautstärke nimmt ständig ab. Nach zwanzig Minuten fängt man an, das Scharren und Reden des sitzenden Publikums zu hören, und merkt paradoxerweise in diesem Moment, dass es nicht wartet, sondern einer Aufführung beiwohnt. Der Klang verliert sich. Und dann kommt der eigentliche Film, nämlich der Nachspann. Daraus geht hervor, dass diese Leute aus allen Stadtvierteln von Manaus zusammengesucht worden sind. Sie haben Namen wie Alcilene Albuquerque Santiago und Wanderlei Francisco da Silva und hörten ein Werk von Becky Allen, Komponistin in Los Angeles, vorgetragen von einem lokalen Chor „do Amazonas“.

Der andere Film Sharon Lockharts, „Goshogaoka“, spielt in der Turnhalle einer Junior High School außerhalb von Tokio und zeigt in zehn Szenen bei gleicher Einstellung (der Kamera) das Basketballteam der Mädchen. Die Übungen, zunächst ohne Ball, sind stark ritualisiert und erinnern eher an Tänze. Die Rufe der Mädchen, die Schritte, das Quietschen der Schuhe geben einen betörenden Soundtrack. Einzelvorführungen mit Ball gelingen oder missglücken. Ballabjagen und Ballzuspiel finden in Paarformationen statt; die Paare fügen sich grazil in die Tiefe des Raums. In der vorletzten der zehn Szenen erscheinen die Mädchen in türkisgrünen Trainingsanzügen aus Fallschirmseide und geben sich gegenseitig Massagen. Ein dünn gesungenes Liedchen zu einem hallenden Glockenspiel beendet die Übung.

Im Nachspann stellt sich wiederum heraus, dass es nicht wirklich eine Übung war. Das Training des Team wurde reinterpretiert durch den Choreographen Stephen Galloway als „movement adviser“ und Lockhart als Drehbuchautorin. Die Liste der Förderer und Sponsoren ist lang und schließt Comme des Garçons ein. Die Entwürfe der Trikots, an denen eigentlich nichts auffällig war, kamen von Lockhart, die sie mit den Müttern der Schülerinnen auch genäht hat.

Nicht anders als bei dem brasilianischen Film, der später entstand, ist – wie bei einer Fotografie – der große Aufwand in die Vorbereitung verlegt worden; kinematografisch gesehen sind beide Filme nahezu nichts sagend. Dennoch werden sie nicht als Video in der Ausstellung gezeigt, sondern als Filmprojektion im „Art Movie“; so nennt sich in Zürich das Kino im Nägelihof, der nicht im Stadtplan verzeichnet ist. Um genau das Maß, das der Film braucht, hat Lockhart ihr fotografisches Tableau mit Handlung aufgefüllt, also gering. So wenig wie ihre Fotografien dokumentieren, tun es ihre Filme. Allerdings nicht, weil es nichts zu dokumentieren gäbe; im Gegenteil, die Recherche, die die Künstlerin leistet, ist monströs. Sondern weil sie die parallelen Fäden ihrer Erfahrungskunde – Empirie – kappt und quasi im Querschnitt vorführt, also im Stillstand. Diese Aushöhlung von Belangen, das Bloßstellen vereinzelter Referenzen ist das, was daran untrüglich bildende Kunst ist. Man denke nur an Jasper Johns’ Flaggen-Gemälde, die gewiss nicht Ausdruck von Nationalstolz waren und auch nicht von dessen Gegenteil. Gerade die Entthematisierung des Motivs schlägt als visuelle Größe zurück.

Jugendliche Debütküsse

Lockharts Vorliebe für Ambivalenzen mag auch ihr Geschick in der Bildfindung mit Jugendlichen erklären. Im Treppenhaus einer Schule – man sieht am gemusterten Steinboden das wandernde Nachmittagslicht – hat sie junge Paare fotografiert, deren Aufgabe es war, die Szene eines ersten Kusses in einem Truffaut-Film nachzustellen. Auf fünf großen blauen Fotografien sieht man liebreizende Verlegenheiten, aufflackernde Wünsche bei den Jungen und archaische Abwehr bei den Mädchen: Es ist unmöglich zu entscheiden, was der Regie der Nachahmung geschuldet ist und was als Sentiment in eine Szene hineinspült, die schauspielerisch niemals gemeistert werden kann – ohne Übung.

Wenn Lockhart – von Los Angeles aus – sich an den Grundlagen der Fotografie zu schaffen macht, dann nicht, um einen Schuldzusammenhang zu konstruieren. Das Bilderlamento von Sherrie Levine und Louise Lawler liegt ihr fern. Geschickt springt sie von schwarzweißem Material zu farbigem. Von der Insel Apeú-Salvador bringt sie die Porträt(?)-Serie einer Maria da Conceicao Pereira de Souza mit, die zehn Früchte zur Schau stellt. Keine Frage, dass das Motiv einen kolonialwerblichen Unterton hat und dass Maria, das Modell, das begreift. Lockhart teilt aber nicht den Selbsthass der weissen US-Akademia, die sich fortwährend als Urheber repressiver Strukturen bloßstellt. Stattdessen kehrt sie die Argumentation um: Die kolonialistische Stereotypie ist die Matrix, in die ein lebendiges Bild eingetragen wird. Das ist bemerkenswert an Lockharts Grundlagenarbeit zur Fotografie: Sie lässt die kommerziellen und wissenschaftlichen Quellen nicht dümmer erscheinen, als sie sind. Sie tastet sich vor in ein Vakuum des Ausdrucks, mit dessen dünn gewordener Luft sie die Reinheit des Visuellen – jenseits seiner Bestimmung – artikuliert.

Dabei kommt sie partiell zurück zum Gegenstandsbezug der Fotografie; ihre Bilder sind keineswegs nur kalkuliert, kalt oder sekundär. Man könnte sie geradezu missverstehen. Dann würde man Lockhart für eine „gute Fotografin“ halten. Aber es gibt Schlimmeres als eine Täuschung der Augen.

Sharon Lockhart: „Teatro Amazonas“; bis 21. 5., Kunsthalle Zürich. Vom 10. 6. – 27. 8. im Kunstmuseum Wolfsburg. Katalog mit Texten von Timothy Martin und Ivone Margulies, 124 Seiten, ca. 45 DM