Wie das Lotterleben so spielt

■ Sie fickten und sie schlugen sich: Das Oldenburger Theater zeigt jetzt Patrick Marbers Beziehungsdrama „Hautnah“

Männer lassen die Hosen runter, Frauen brechen durch eine riesige Leinwandvagina auf die Bühne. So hinterrücks defloriert prangen die gespreizten Schamlippen dem Oldenburger Publikum direkt ins Gesicht. Die Premiere von Philip Marbers „Hautnah“ löste unter der Regie von Urs Odermatt den Titel des Stückes ein und trennte dadurch nach der Pause im Oldenburgischen Staatstheater zartbesaitetere TheatergängerInnen von den aufgeschlosseneren. Die bildeten dann aber eine klare Mehrheit und quittierten die Inszenierung mit viel Beifall. Doch da übertreiben die OldenburgerInnen auch gerne mal.

Vor einer riesigen Videoleinwand treffen vier Menschen aufeinander, um es Goethes Wahlverwandtschaften nachzutun. Doch was schon im Zeitalter der Aufklärung schief ging, wird natürlich in cyberanimierten Zeiten perverser, brutaler, aber nicht glückbringender. Der verhinderte Schriftsteller und Nachrufautor Dan (Roman Kohnle) trifft die naive Stripperin Alice (Jördis Johannson) und beutet ihre Lebensgeschichte für seinen Roman aus. Kurz darauf lernt er die Foto-Künstlerin Anna kennen und fährt auf sie ab. Immer auf der Suche nach Stoff für seine Geschichten loggt er sich unter ihrem Namen in der Chat-Gruppe „London fickt“ ein und preist „seine“ epischen Titten, auf die wiederum „spitze Spritze“ Larry abfährt. In einem boulevardesken Missverständniskuddelmuddel lernt Larry die echte Anna kennen. Der selbstverliebte, zynische Arzt Larry und die exaltierte Künstlerin Anna werden ein Ehepaar. Was sie allerdings nicht davon abhält, es auch mit Dan und Alice zu treiben. Denn jeder weiß Bescheid, nichts hat irgendwas zu bedeuten.

Und doch wird die Frage „Bist du gekommen?“ so mörderisch wichtig, dass sie die eigentliche Frage verdeckt: Was bedeute ich dir? Nein, so zu reden fällt diesen EgomanInnen nicht mehr ein. Schließlich können Larry und Anna nur noch aufeinander einprügeln, weil sie anders keine Sprache mehr finden für Verletztheit, die in diesem total veröffentlichten Diskurs über Sex – als postmodernes Kürzel für ein außerirdisches Phänomen namens Liebe – nicht mehr sein darf.

In diesem Stück rührt die Verletztheit erst aus dem totalen Zwang zur Veröffentlichung, die alles entwertet. Sprache wird bei Marber zum Datenträger. Sie läuft teilweise rückwärts im Mund der SchauspielerInnen. Doch auch richtig abgespult, ergibt sie oft nur inhaltsleeren Salat.

Die Inszenierung von Urs Odermatt macht das Deutliche noch deutlicher. So lässt Dan zu seinem „Ich liebe Dich“ sinnfällig Seifenblasen fliegen. Auf der Leinwand spulen die Redenden ihren Text ab. Es ist ein tonloses Bild zu den vielen Entschuldigungen, die keine Konsequenz haben. Denn als Offenheit getarnte Geständnisse sind nur eine andere Art, Exhibitionismus und Voyeurismus zu befriedigen. In körperlicher Gewalt suchen Anna und Larry zugleich Grenzen und wirklichen Kontakt.

Joanne Gläsel als Anna und Jürgen Lorenzen als Larry sind in diesem elenden Clinch mimisch und physisch enorm präsent. Und sie bewahren die Inszenierung, die vor Wortwitz und dazu improvisierten Einfällen nur so bersten will, auch vor inflationärer Überfülle.

Marijke Gerwin

Aufführungen: 7., 26. und 28. April sowie am 5. Mai um 20 Uhr im Kleinen Haus des Oldenburgischen Staatstheaters