Sachsens unruhige Schulen

Den Schulen des Freistaats gehen die Schüler aus. Doch gegen die simple Logik, Lehrerstellen einzusparen, macht sich Unmut breit. Die Eltern wollen, dass Bildung im Etat als Investition gilt

aus Dresden NICK REIMER

Schon der dritte Kuchen, der ihnen an diesem Vormittag gebracht wird. Über mangelnde Unterstützung können die Besetzer der 87. Grundschule in Dresden nicht klagen. Seit drei Wochen protestieren Eltern und Schüler durch dauerhafte Anwesenheit, sprich „Besetzung“, gegen die Schließung ihrer Grundschule. An einen schnellen Erfolg glaubt niemand. „Wir haben uns darauf eingerichtet, dass das hier lange geht“, sagt Anetta V. zuversichtlich. Die Elternvertreterin hält sich hier in Doppelfunktion auf – sie ist selbst auch Lehrerin an der Grundschule. „Kriegen wir in den Sommerferien genug Besetzer zusammen?“, fragt sie sich.

Ständig finden Aktionstage Großkundgebungen, Parlamentsdebatten, Schülerwarnstreiks und Schulbesetzungen statt – Sachsen erlebt eine nie da gewesene Auseinandersetzungen um sein Bildungssystem.

„Unglücklicherweise war Auslöser der öffentlichen Diskussion der Mord an einer Lehrerin“, erinnert der CDU-Bildungspolitiker Thomas Colditz an den Schock von Meißen, wo ein 15jähriger Schüler seine Lehrerin erstach - und danach alle ratlos bis entsetzt nach den Ursachen fragten. Der eigentliche Grund für den sächsischen Schulstreit liegt aber schon zehn Jahre zurück: Die politische Wende von 1989 und ihre drastischen Folgen auf die Geburtenrate im Osten.

Geburtenknick halbiert Sachsens Schülerzahlen

Die Unsicherheiten nach dem Untergang der DDR und der damit verbundene Geburtenknick haben die Schülerzahlen nahezu halbiert. Wurden im Schuljahr 1991/92 noch über 60.000 Erstklässler eingeschult, waren es in diesem Jahr noch knapp 26.000. Eine Prognose sagt den Tiefpunkt für das Schuljahr 2010/2011 voraus. Mit etwa 440.000 Schülern werden dann noch halb so viele Kinder wie Mitte der 90er Jahre Sachsens Schulen besuchen.

Der Schülermangel ist nicht die einzige Folge des gesellschaftlichen Umbruchs. Der Lehrerberuf hat heute im Osten nur noch einen sehr niedrigen Stellenwert. Der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer lieferte quasi die wissenschaftliche Untermauerung für ein verbreitetes Gefühl: Dass die Pädagogen und das Erziehungssystem der DDR verantwortlich sind für die viel stärker als im Westen autoritätsfixierten und fremdenfeindlichen Jugendlichen des Ostens. Sachsens Kultusminister Matthias Rößler (CDU) pflichtete dem praktisch bei: Er bezeichnete ein Drittel der sächsischen Lehrer als Altlast, die für die Demokratie verloren sei. Sachsens Lehrerschaft ist wie überall in den neuen Bundesländern verunsichert, veraltert und überbelastet.

Jetzt aber drehen die Eltern im Freistaat den Spieß um. Sie fragen: Welche Folgen hat das bundesdeutsche Bildungs- und Gesellschaftssystem? Wolfgang Diez ist Schulbesetzer der 87. Grundschule geworden, „weil endlich damit Schluss sein muss, an der Perspektive unserer Kinder zu sparen“. Und Anetta V. pflichtet ihm bei: „Ob für Ferienlager, Buntpapier oder Mittagessen – wir hatten in der DDR eindeutig mehr Mittel für die Kinder. Und in jedem Fall mehr Zeit.“

„Mit 27 Wochenpflichtstunden sind Sachsens Lehrer in der Bundesrepublik ganz vorn“, berichtet die GEW-Landesvorsitzende Sabine Gerold. Die SPD errechnete einen Mangel von 1.500 Lehrern. Der Versuch, die Lücke durch einen Landtagsbeschluss zu füllen, blieb erfolglos. Statt dessen mussten immer mehr Lehrer ihren Hut nehmen: Seit dem Schuljahr 1991/92 sank die Stellenzahl um über ein Viertel.

Weniger Schüler gleich weniger Lehrer gleich weniger Schulen macht weniger Kosten – für die Finanzpolitiker des Freistaates kommt der Kinderrückgang gerade recht. Ende 2004 läuft der Solidarpakt aus, der die gigantischen Finanztransfers in die östlichen Bundesländer regelt. Um dem erwarteten Rückgang der Ostsubventionen gerecht zu werden, will Ministerpräsident Kurt Biedenkopf die Ausgaben seines Landes um zehn Prozent kürzen. Das geht nur noch über Personaleinsparungen – also bangen die Lehrer. Kommendes Schuljahr werden 767 Lehrerstellen gestrichen, im Schuljahr 2001/02 etwa 1.400, 2002/03 sollen es gar 2.000 sein.

Das jedoch reicht nicht aus, um die Regierungsgorgaben zu erfüllen. Biedenkopf will im Doppelhaushalt für die Jahre 2001/02 noch Pauker-Planstellen einsparen. „Man kann heute keinem jungen Menschen ehrlichen Herzens empfehlen, Lehrer zu werden“, bereitet Biedenkopf die Pädagogenklientel auf die Kürzungen vor. Über 200 Schulen wurden seit 1995 wegen Schülermangels geschlossen, 130 sollen bis 2002 folgen.

Dabei sind, statistisch gesehen, die Schüler im Freistaat schon heute die billigsten in Deutschland. Während die öffentliche Hand im Bundesdurchschnitt 8.200 Mark pro Schüler und Jahr ausgibt, berappen die Sachsen nur 6.500 Mark je Schüler. Anetta V. kann ein Lied davon singen. Ruhig sein habe die Devise bislang geheißen: „Wir wussten in den ersten Jahren nach der Wende ja nicht, ob wir wegen unseres sozialistischen Studiums alle stempeln gehen müssen.“

Die junge Lehrerin stimmte – wie die meisten ihrer KollegInnen – einem Teilzeitmodell zu. Zuerst waren es 85 Prozent des Lohnes, jetzt ist die alleinstehende Mutter eines Kindes bei 60 Prozent der Bezüge angelangt – der Ostbezüge. Das bedeutet im Vergleich zu Westkollegen etwa die Hälfte des Lohns.

Müssen Bildungsausgaben weiter als Konsum gelten?

Doch für die Besetzer der 87. Grundschule geht es nicht ums liebe Geld, sondern ums Prinzip. „Zukunftsorientierte Bildung ist mit kameralistischer Herangehensweise nicht zu machen“, moniert Schulbesetzer Wolfgang Diez das geltende Haushaltsrecht. Das hat jetzt erstmals auch Kultusminister Rößler eingeräumt, bislang kein Aufrührer. Wenn Bildung wirklich ein Zukunftsinvestition sein solle, so stellte Rößler ein bundesweit geltendes Prinzip infrage, „kann man die Ausgaben im Bildungssektor, die zu 90 Prozent Personalausgaben sind, nicht als konsumptive Ausgaben reduzieren“. Bildungsausgaben müssten haushaltstechnisch nicht als Konsum angesehen werden – sondern als Investition. Die Opposition von PDS und SPD bejubelte Rößler – das gab’s noch nie.

Biedenkopf erkannte die Gefahr sofort, er verpasste seinem aufmüpfigen Kultusminister einen Maulkorb. Für die laufende Etatberatungen scheint Rößler mit seinem Ziel gescheitert zu sein: Der Schuletat schrumpft, Lehrergehälter zählen weiter als Konsum.

Auch die Aussichten der Besetzer um Anetta V. und Wolfgang Diez sind nicht besser geworden. Vergangenen Freitag beendete die Polizei die Besetzung des Joseph-Haydn-Gymnasiums. Es liegt von der 87. Grundschule nur wenige hundert Meter entfernt.