Seelandschaft mit Stuckrad-Barre

Christian Kracht reist aus Phnom Penh an, Maxim Biller spürt Nazis und Schlappschwänze auf, und Joachim Bessing erklärt sich für Popkultur nicht zuständig: Die Evangelische Akademie Tutzing hat die Gegenwartsliteratur entdeckt

von KOLJA MENSING

„Wir lachten töricht, und spielten vor Verlegenheit mit dem Wasser.“

(Arno Schmidt: „Seelandschaft mit Pocahontas“, 1955)

Das Referat fällt aus. „Herr Stuckrad-Barre ist nach Thailand geflogen“, sagt Frau Andert, die Tagungsleiterin, „darum kann er heute nicht hier sein.“ Logisch. Später hört man dann noch eine andere, geografisch leicht abweichende Begründung für Benjamin von Stuckrad-Barres Fehlen, nämlich dass er in Sri Lanka beziehungsweise „auf dem Flug von Sri Lanka nach hier“ verloren gegangen sei: Es ist ein weiter und sicherlich verschlungener Weg von Asien nach Bayern, vom Bengalischen Golf an den Starnberger See.

Der Schriftsteller, Asienreisende und Popstar Benjamin von Stuckrad-Barre ist also nicht da, nur sein Geist schwebt über den knapp hundert Schriftstellern, Journalisten und Verlagsleuten, die sich für ein Wochenende in der Evangelischen Akademie Tutzing versammelt haben. „Nein“, sagt Joachim Bessing, als er gebeten wird, doch anstelle Stuckrad-Barres über „die Verquickung von Popkultur und Literatur“ zu sprechen: „Benjamin kann das besser.“ Joachim Bessing ist der Herausgeber von „Tristesse Royale“, und während der Tagung trägt er fast die ganze Zeit einen rosa Mohairpullover.

Joachim Bessing: „Ich hatte eigentlich einen anderen Vortrag vorbereitet, unter dem Titel ‚Wärme‘. Er sollte eine Art Hilfeschrei sein. Aber ich habe ihn wieder verworfen.“

Maxim Biller: „Ich möchte trotzdem, dass wir erst einmal über dieses Wort mit den drei Buchstaben reden, über Pop.“

Joachim Bessing: „Nein.“

Frau Andert, die Tagungsleiterin: „Ich würde gerne wissen, warum sie diesenVortrag, den Sie verworfen haben, nicht halten!“

Junger Mann aus dem Publikum: „Können Sie das Manuskript nicht mal zeigen, damit wir sehen, ob es diesen Vortrag überhaupt gibt?“

Joachim Bessing: „So geht das jetzt wirklich nicht.“

„Freiheit für die deutsche Literatur!“, lautet der Titel der Veranstaltung, zu der die Evangelische Akademie eingeladen hat, der Untertitel ist: „Können die Schriftsteller von heute noch so schreiben, wie sie wollen?“ In Tutzing, wo man sonst Tagungen mit dem Titel „Was wird aus Russland?“, „Friedrich Nietzsche“ und „Nachhaltig bilden“ veranstaltet, stellt man sich ein Gespräch über Literatur als große Debatte vor, in Vorträgen, die von Freiheit, Gesellschaft und dem Menschen handeln – und danach wird diskutiert. Maxim Biller ist Mitveranstalter.

Das totale Einverstandensein

Maxim Biller: „Ich hatte gehofft, dass über dieser Tagung der Begriff der Moral liegt.“

Alban Nicolai Herbst: „Maxim, dein Verständnis von Moral ist ein ganz naives, darüber sind wir längst hinweg, mindestens seit Apel, eigentlich schon seit Kant!“

Maxim Biller: „Ich weiß genau, was Moral ist. Wenn man jemandem weh tut, ist das unmoralisch, wenn man jemanden halbwegs in Ruhe leben lässt, ist das moralisch. Diese Namen, Alban, die du da genannt hast, kenne ich gar nicht.

Alban Nicolai Herbst: „Ha! Das habe ich mir gedacht.“

Zoë Jenny, Matthias Altenburg, Joachim Bessing, Alban Nicolai Herbst, Rainald Goetz, Christian Kracht, Feridun Zaimoglu ... Alle sind da. Aber ohne Maxim Biller wäre es nur halb so lustig. In seinem Einladungsschreiben geht es um die Epoche, „in die wir als Schriftsteller hineingeraten sind, ... einer Epoche der kommerziellen Zwänge und politischen Gleichgültigkeit“, um das „spießige Mediendiktat“ und die Regentschaft des „kleinbürgerlichen Geschmacks“. Wow. Und dann hält er einen Einführungsvortrag, in dem er das „totale Einverstandensein“ der deutschen Schriftsteller in den letzten zehn Jahren beklagt, „ihre öde, kompromisslerische, inzestuöse Homogenität“: „Schlappschwanzliteratur“.

Joachim Bessing: „Mir gefällt der Terminus nicht so gut, weil es da um bestimmte, äh, irgendwie unangenehme Sachen geht.“

Joseph von Westphalen: „... ich bin ja einer der älteren unter den jüngeren Schriftstellern hier, aber ... das ist halt so ein Potenzgehabe, na, ja ...“

Alissa Walser: „Du willst berühren, indem du in jemanden eindringst, Maxim.“

Tutzing redet über deutsche Literatur, über die großen Fragen, und über die nicht ganz so großen. Es soll zum Beispiel auch um den veränderten Markt gehen und um die veränderte Rezeption: Agenturen statt Verlage, Talkshow statt Feuilleton. Aber man landet nur immer wieder beim Wort mit den drei Buchstaben, beim Pop. Und Stuckrad-Barre wacht: „Siehe, sie sind ein Volk und haben alle eine Sprache“, muss der große Asienreisende gedacht habe, als er von der Höhe herab auf diese alttestamentarische Versammlung im Saal zu Tutzing sah: „Wohlan, lasst uns hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren.“

Sylvia Szymanski: „Ich habe Pop immer geliebt, weil man Pop verstehen kann, ohne studiert zu haben.“

Studentin: „Ich habe an der Schule und in der Uni die ganze Zeit so viel über die Nazi-Zeit lesen müssen. Ich finde gut, dass es jetzt auch andere Literatur gibt.“

Joseph von Westphalen: „Im Literaturbetrieb bin ich eher der Rock 'n' Roller.“

Joachim Bessing: „Ich fühle mich für Popliteratur nicht zuständig.“

Maxim Biller: „Die Leute, die ,Tristesse Royale‘ lesen, wollen doch auch nur marschieren. Das ist Nazi-Zeugs.“

Das Erstaunliche ist nicht, wie Maxim Biller auf die Idee kommt, „Tristesse Royale“, dieses hilflose Gespräch über die Aporien des Zeitgeistes der späten 90er-Jahre, als Nazi-Zeugs zu bezeichnen. Das Erstaunliche ist, wie die Mehrzahl der anwesenden Literaturredakteure und Schriftsteller – die meisten jenseits der 30 und gerne noch etwas älter – die Stunde der babylonischen Verwirrung nutzten, um noch einmal – allen Ernstes! – ihre Deutungshoheit mit intellektueller Melancholie zu behaupten: Es wurde über den Kunstmarkt der 80er-Jahre geredet, über die FAZ und die SZ, über fehlendes soziales Engagement, über Avantgarde, Banalität und Warenästhetik. Man bestätigte sich darin, dass „My Generation“ von den Who bereits das letzte Statement zur Generationenfrage gewesen sei, und verlegte gleichzeitig den Beginn der Popliteratur immer weiter zurück, bis man im 19. Jahrhundert angekommen war, zunächst bei Otto Ludwig und dann bei der romantischen Ausdrucksästhetik. Alle bemühten sich, das witzig zu finden. Gelacht hat allerdings keiner. Irony is over.

Die nahe liegende Frage, wofür denn der Begriff der Popliteratur zur Zeit steht – er bezeichnet ja eigentlich nicht mehr als ein paar Autoren, die mehr als ihre Vorgänger über Äußerlichkeiten, Homestories und das jetzt-Magazin vermarktet werden, kleine Bücherpopstars eben –, stellte man sich in Tutzing nicht.

Am Samstagabend las Christian Kracht eine Geschichte vor. Der junge Schriftsteller ist braun gebrannt, und die Geschichte, die er vorlas, war sehr traurig. Man verstand Joachim Bessings Bemerkung, dass er am Nachmittag am liebsten über Wärme gesprochen hätte. Irony is over.

Frau Andert, die Tagungsleiterin: „Ich freue mich sehr, dass Christian Kracht gekommen ist. Er ist extra aus Phnom Penh angereist, wo er zur Zeit lebt.“

Der Moderator: „Nach der Lesung wird nicht diskutiert.“

Der rosa Mohairpullover

In Tutzing, am ruhigen Wasser des Starnberger Sees, wurde viel geschwiegen. Zum Beispiel wurde ständig über Maxim Billers Ansichten über die deutsche Literatur gesprochen, sein gerade erst erschienener Roman „Die Tochter“ jedoch mit keinem Wort erwähnt. Oder: Alissa Walser hatte unter dem Titel „Poetik statt Politik“ einen sehr komplizierten Vortrag über die Differenz gehalten und war daraufhin gebeten worden, ihn in Thesen zusammenzufassen. Das gehe nicht, sagte Frau Walser, und schwieg fortan in dunkler Eleganz.

Auch Christian Kracht sagte die ganze Tagung über nichts. Er saß, außer bei seiner eigenen Lesung, immer auf dem gleichen Platz, neben Joachim Bessing. Einmal runzelte er die Stirn, als Maxim Biller seinen Roman „Faserland“ als ein „tragisches Duell“ zwischen einem „kleinen Barbourjackennazi und dem großen Barbourjackennaziland“ zusammenfasste.

Vielleicht hat Christian Kracht an Phnom Penh gedacht und sich gewünscht, er wäre genau wie Benjamin von Stuckrad-Barre auf dem Flug zwischen Asien und Deutschland einfach irgendwo verschwunden. Vielleicht ist ihm zu den Gesprächen in Tutzing aber auch einfach nur nichts eingefallen. Man weiß es nicht. Man ahnt, dass das Schweigen in Tutzing interessanter war als die Gespräche, doch davon lässt sich nur schwer erzählen. Man kann nur vom ruhigen, hellblauen Wasser des Starnberger Sees erzählen, vom Nebel, der sich am Morgen darüber legt, und vom sanften, rosa Licht, das abends von den schneebedeckten Alpen herüberzieht und das die gleiche Farbe hat wie Joachim Bessings Mohair-pullover.

Moderator: „Hat's was gebracht, insgesamt?“

Rainald Goetz: „Ich fand's total toll!“

Zoë Jenny: „Das Referat von Benjamin von Stuckrad-Barre ist ja leider ausgefallen. Ich fand es dann aber sehr interessant, wie die Generationen hier aneinander vorbeigeredet haben.“

Feridun Zaimoglu: „Der Kampf geht weiter.“

Literaturredakteur: „Rein technisch gesehen, gehören Zoë Jenny und ich zur selben Generation.“

Der Literaturredakteur trägt einen Bart, ist 35 Jahre alt und hatte auf derTutzinger Tagung mehrfach seine Bereitschaft geäußert, „3.000 Jahre Abendland“ vor dem Untergang zu bewahren. Manchmal waren es auch „4.000 Jahre“. Zoë Jenny lacht, Rainald Goetz schlägt den Kopf auf den Tisch. Maxim Biller bedankt sich bei allen, und Frau Andert, die Tagungsleiterin sagt: „Die Akademie schließt um 14 Uhr, aber wer noch etwas bleiben will – das Ufer ist offen, der See ist da.“