Zwei Laster

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Der Beobachter ist das Unbeobachtbare,sagt Luhmann

„Die typische Themenbehandlung alarmiert, stumpft ab, festigt den Vorausblick auf weitere Katastrophen und erzeugt beim individuellen Nachrichtenempfänger ein Gefühl der Hilflosigkeit (und damit nicht zuletzt: ein Rekrutierungspotential für Protestbewegungen, die aber ihrerseits nur fordern können, dass die anderen es anders machen).“ Niklas Luhmann: „Die Gesellschaft der Gesellschaft“. 1997

Zwei Laster sind es, denen sich der moderne Mensch vor allem hingibt: der Meinungsfreude und der moralischen Eitelkeit. Sie haben die zentralen Laster der alten Welt, Geschlechtslust und Völlerei, unauffällig ersetzt.

Man könnte die Exzesse der Meinungsfreude sowie der moralischen Eitelkeit an Heribert Prantl oder Michael Stürmer oder Jürgen Busche exemplifizieren, den Leitartiklern, die jene zugleich alarmierende und abstumpfende Erzählmaschinerie bedienen. Ich möchte aber lieber auf meine alte Freundin O. zu sprechen kommen, weil sie mich eben mal wieder als Logierbesuch heimgesucht und an ihrem morgendlichen Zeitunglesen und abendlichen Fernsehen intensiv hat teilhaben lassen, um es so zu sagen.

Zeitung zu lesen und fernzusehen und über die dort mitgeteilten Stoffe sich heftig Meinungen zu bilden, das ist, genau besehen, ihre Haupttätigkeit. Denn sie hat keinen richtigen Beruf und auch keine Famile; nicht einmal als Alleinerziehende hat sie es versucht – als die entsprechende Meldung kam, vor ein paar Jahren, die Wissenschaft habe einer 60-Jährigen zur Schwangerschaft verholfen, kriegte man aber eine prachtvolle Breitseite ab: Das sei doch typisch für diese Gesellschaft, dass sie die biologische Beschränkung der Frau erst jetzt durch Wissenschaft aufhebe, und das auch nur zögernd.

Auf meine alte Freundin O. komme ich immer zu sprechen, wenn von den Verlierern die Rede ist, die man unter unseresgleichen, für die das 60. Lebensjahr gut sichtbar wird, ausmachen muss. Sie selbst sieht das natürlich anders. Sie hat, indem sie nie ihr Examen in Slawistik ablegte, die gesellschaftliche Anpassung heroisch verweigert; ihre prekär aus Schwarzarbeit und Arbeitslosenhilfe gewebte Existenzgrundlage, eigentlich eine Form von Schnorrerei, pflegt sie als Widerstand, als Partisanendasein zu deklarieren.

Während die anderen sich willig und blind der kapitalistischen Arbeitsmoral unterwarfen, schlägt sie derselben listig ein Schnippchen – als Zeitungen und TV von den Indern und der Green Card und den Computern erzählten, hatten wir schon am Frühstückstisch schwer zu leiden unter den Tiraden, wie der Kapitalismus seinen ausbeuterischen Zugriff auf die Dritte Welt verschärfe; wie die Entfremdung des Menschen durch die einsame Arbeit am Computer eine neue Dimension erreiche; wie mit den Indern eine neue Ausländergruppe geschaffen werde, damit der deutsche Fremdenhass ein frisches Opfer finde ...

Wie es die anderen sind, die es der Meinungsfreude meiner alten Freundin O. zufolge unbedingt anders machen sollten, ist also gut zu erkennen. Sie nennt sie: die Gesellschaft. Wie sie dazugehört, dass nur der riesige und glücklicherweise nicht völlig durchkontrollierte Reichtum dieser Gesellschaft moderne Schnorrerexistenzen wie die ihre unauffällig ermöglicht, das ist für sie vollständig unsichtbar. Der Beobachter ist das Unbeobachtbare, sagt Luhmann, jedenfalls für sich selbst.

Aber das ist kein Grund zur Verzweiflung, und in der Tat ist meine alte Freundin O., während sie im TV und in der Zeitung die schlechten Nachrichten verfolgt, bester Laune. Ihre Meinungsfreude strahlt eine kindliche Begeisterung ab, auch wenn es um schwärzeste Materien geht, und das unterscheidet sie gründlich vom altdeutschen Zentralinstitut der Meinungsfreude, dem Stammtisch, wo bekanntlich finster das Ressentiment regiert. Während hier der Massenmord der Hutu an den Tutsi frohlockend dem afrikanischen Untermenschentum zugerechnet wird, erfreute sich meine alte Freundin O. an der Nachricht, erst die westlichen Kolonialherren hätten den Unterschied zwischen Hutu und Tutsi überhaupt geschaffen und so auch den neuesten Völkermord zu verantworten (sie natürlich nicht; sie ist ja draußen).

Das wäre ein hübsches eigenes Thema: wie die Achtundsechziger eine Art von Stammtischdiskurs eingerichtet haben, einen vulgärmarxistischen, der das Unglück in der Welt dem Kapitalismus so zuordnet, als wäre er eine ewige, wenn auch ewig ungerechte kosmische Ordnung, über die sich nur klagen, schimpfen und schwadronieren lässt. Man könnte auch auf Bernd Rabehl und Horst Mahler zu sprechen kommen, die von hier den Weg zurück zum deutschnationalen Stammtisch gefunden haben. Aber ich möchte jetzt das zweite Laster betrachten, dem der moderne Mensch sich so gern hingibt (statt, wie der alte, der Völlerei): die moralische Eitelkeit.

Sie ist bei den Meinungen, die ich oben von meiner alten Freundin O. referiert habe, natürlich schon mitgegeben. Ihre Absichten sind die besten; wenn es nach ihr ginge, wären Elend, entfremdete Arbeit, Völkermorde, Fremdenhass längst abgeschafft: Sie glost, wenn sie die schlechten Nachrichten aus der Welt in das Licht ihrer eigenen besten Absichten taucht. Aber es finden sich auch offene Exzesse.

So begeisterte meine alte Freundin O. sich am Frühstückstisch sehr über die skeptischen Nachgedanken zum Kosovo-Krieg. Selbstverständlich ist jetzt alles viel schlimmer als vorher und Milošević fest im Amt, ja womöglich durch die Nato gekräftigt, während die UÇK unter deren Augen ein faschistisches Regime etablieren darf.

Sie verweigerte sich heroisch jeder Art von Anpassung

Wie flink die moralische Eitelkeit sich zu bedienen weiß, sieht man nun hier an. Während meine Freundin O. gegenwärtig humanistisch mit der Überzeugung paradiert, der Kosovo-Krieg sei – wie alle Kriege – abzulehnen (ihren besten Absichten genügt keiner), erinnere ich mich gut daran, wie sie vor einem Jahr sich nicht genug tun konnte, die Rechtfertigung des Eingriffs mit der hu.-manitären Katastrophe, die drohe, zu verhöhnen, eine Rechtfertigung, die, zugegeben, selber nicht frei ist von moralischer Eitelkeit. Schließlich entstammt der Bundesaußenminister demselben Milieu wie meine alte Freundin O.

Überhaupt ist er ihr Lieblingsfeind. Was in Tschetschenien geschieht, sie kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass Joschka Fischer und die Nato hier längst ebenso hätten eingreifen müssen wie im Kosovo.

Triumphierend verlas sie am Frühstückstisch das Manifest, mit dem die üblichen Verdächtigen unter Europas Intellektuellen das Ausbleiben des westlichen Eingriffs, der westlichen Empörung geißeln. Sie zeigen die Empörung; damit reinigen sie sich von jeder Mitschuld, und ihre humanistischen Absichten glänzen wie neu.

Wohlgemerkt, es geht nicht um die moralischen Orientierungen, denen meine alte Freundin O. in ihrem Alltag folgt. Da wird sie das normale Gleichgewicht von Gewissenhaftigkeit und Korruption verkörpern. Ihre Meinungsfreude und ihre moralische Eitelkeit beziehen sich ausschließlich auf die Welt, die unerreichbar hinter der Zeitungsseite und dem Bildschirm liegt und sich darauf so verlockend zeigt. Wer dagegen im Alltag zu viel Meinungsfreude oder moralische Eitelkeit zeigt, ist bald seine Zuhörer los und gerät in einen Nachbarschaftskrieg.