Macht hoch die Tür

Arbeit. Zählappell. Arbeit. Warum Pater Vincens für die JVA Tegel eine Amnestie will

aus Berlin TOBIAS KAUFMANN

Tintenpisser. Zum x-ten Mal spuckt Pater Vincens sein Lieblingsschimpfwort in den Raum. Synonym für Im-Büro-Herumsitzer, für Dienst-nach-Vorschrift-Macher und sowieso alle, die nicht wissen, wie das Leben wirklich ist. Tintenpisser. Den Telefonhörer, durch den er dem Sozialarbeiter am anderen Ende der Leitung zu Beginn des Gesprächs noch sanft ein grüßendes „Pater Vincens“ säuselte, hat er natürlich vorher auf die Gabel geknallt.

Justizvollzugsanstalt Tegel. Nach der Sprechstunde gönnt sich Pater Vincens eine Tasse Tee. Der rosafarbene Plastiklöffel darin sieht albern aus, aber Metalllöffel gibt es hier nicht, weil Häftlinge sie klauen könnten, um in ihnen Heroin zu kochen. Pater Vincens hält zur Sprechstunde lieber „Fair Play“-Zigaretten und Schokolade bereit, denn „die Gifties brauchen viel Süßes“. Seit 1972 ist Vincens, Mitglied des Salvatorianer-Ordens, Gefängnisseelsorger in Tegel. Frühestens zum 30. Dienstjubiläum will er hier weggehen, obwohl er mit seinen siebzig Jahren schon längst im pensionsfähigen Alter ist. Den möglichen Nachfolgern wollte der Geistliche seine Schäfchen aber lieber nicht anvertrauen. Zu liberal seien viele Kollegen, und zu weinerlich.

Knast macht lebensuntüchtig

Der kleine Mann, an dem alles Äußerliche weich und rund ist – das Gesicht, die Nase, der Bauch – wiegt den Kopf mit der ergrauten Meckifrisur. „Wer ins Gefängnis muss, der liegt am Boden, mit dem Gesicht im Dreck. Aber wem nützt es, wenn ich mich daneben lege und mitjammere?“ Pater Vincens schlägt die Hände vor der Brust zusammen. Schrill und laut imitiert er jammernde Priester-kollegen, so dass die Sekretärin an ihrem Tischchen zusamenzuckt: „Es ist ja alles soooo schrecklich.“ Die Faust haut entschlossen in die Luft. „Ich muss den Häftling am Kragen hochziehen. Dann muss er arbeiten, und ich helfe ihm mit Glaube, Hoffnung, Liebe und Wahrhaftigkeit, sich innerlich zu befreien. Nur wen Jesus befreit, der ist wirklich frei. Wir Kirchenleute sind doch die einzigen im Vollzug, die noch Werte haben und weitergeben.“

Pater Vincens ist kein Tintenpisser. Er weiß, dass ihn viele Häftlinge acht Stunden am Tag belügen. „Betrüger fahren bei mir U-Boot, und das sage ich denen.“ Er sagt auch: „Knast ist kein Damenstift.“ Er ist gegen lange Strafen, weil jeder Tag in Haft, dieser Käseglocke mit drei Mahlzeiten am Tag, lebensuntüchtig macht. Stattdessen: kurze, harte Strafen, mit strukturierter Freizeit und Therapieangebot. Als die Sozialpädagogen über inzwischen übliche Schocktherapien noch die Hände überm Kopf zusammenschlugen, hat er schon vorgeschlagen, brutalen Schlägern Videos vorzuführen, die den Tagesablauf eines Menschen zeigen, der an den Rollstuhl gefesselt ist. Damit sie wissen, wie ihre Opfer den Rest ihres Lebens verbringen müssen.

Es wird diese seltene Mischung sein, aus charmanter Liebenswürdigkeit, hemdsärmeliger Geschäftigkeit und der deutlichen Sprache, die dafür sorgt, dass sie einen wie ihn hinter Gittern ernst nehmen. Einen Mann, der sich ein Foto aufgehängt hat, vom Besuch des Papstes bei dem Attentäter, der ihn zu töten versuchte, und der ohne rot zu werden von der Barmherzigkeit Jesu Christi spricht.

Pater Vincens greift zum Präsentkorb herüber, der seit dem 70. Geburtstag vor drei Monaten auf einem Stühlchen in der Ecke steht, und zieht eine Flasche heraus. Das Lächeln verschwindet beim Lesen des Etiketts. Olivenöl. „Wozu braucht man denn so was?“ Er hat kein Radio, keinen Fernseher und weiß nicht, wie man Salat macht. Nebensächlichkeiten für einen, an dessen Auto steht: Unterwegs im Namen des Herrn. „Die Gerechten müssen wir schützen, aber Jesus hat auch gesagt: Ich bin gekommen, um die Sünder zu berufen“, sagt der Geistliche.

An der Fähigkeit zu verzeihen, herrsche ein bedenklicher Mangel, hat Pater Vincens festgestellt. Wie alle katholischen Gefängnisseelsorger in Deutschland fordert er deshalb ein Signal, eine Amnestie. Jedem Inhaftierten soll zu Weihnachten, dem 2000. Geburtstag von Jesus Christus, ein Jahr seiner Strafe erlassen werden. „Ganz einfach und praktikabel“, erklärt Pater Vincens und zündet sich eine dicke Brasilia an, „nicht so ne bescheuerte Rechnerei wie beim Amnestievorschlag der Grünen.“ Amnestie, Schuldenerlass, Sklavenfreilassung erinnern an den jüdischen Sabbat: den siebten Tag, an dem jeder Mensch, sogar das Vieh, von den Pflichten des Alltags befreit wird. „Wir sind Christen. Wer, wenn nicht wir, soll die Botschaft der Barmherzigkeit vertreten?“

Eine gewisse Ratlosigkeit kann der Pater bei der Frage nicht verbergen. Begeisterung haben die Seelsorger mit ihrem Vorschlag bisher nicht geernet, aus einer Gesellschaft, die gerade dabei ist, den Sonntag abzuschaffen. Keine Regung in den Medien. Ablehnung in der Politik. Aus dem Bundesjustizministerium heißt es: „Generalamnestien sind mit unserem Rechtssystem nicht vereinbar und stammen aus vordemokratischen Zeiten.“

Immerhin, Klaus Lange-Lehngut, der Leiter der Tegeler JVA, gibt zu, „hin- und hergerissen“ zu sein. Einerseits sei eine generelle Amnestie mit freien Gerichten nicht zu machen. „Außerdem müssen wir bei jedem Häftling prüfen, ob er überhaupt für eine Freilassung geeignet ist. Sonst kommen Leute frei, die eine Gefahr darstellen.“

Nur gut, wenn Platz frei würde

Andererseits weiß er, dass es für die Tegeler JVA nur gut wäre, würde der ein oder andere Platz bald frei werden. 1.700 Gefangene aus 53 Nationen drängeln sich auf den offiziell 1.560 Haftplätzen. Wer eine Einzelzelle hat, lebt auf acht Quadratmetern, mit Tisch, Stuhl, Bett. Viele Häuser der 1898 errichteten Haftanstalt, sind noch panoptisch gebaut, wie in amerikanischen Filmen: Die Zellen aneinander gereiht in den mehrstöckigen Gängen, die sternförmig auf ein Wächterhäuschen zulaufen, in den Zwischenräumen sind Netze gespannt, damit niemand vom Geländer springt. „Hier ist so etwas wie Wohngruppenvollzug überhaupt nicht möglich“, klagt Lange-Lehngut. Morgens Arbeit, mittags zum Zählen in die Zelle, wieder Arbeit, Freizeit, nochmal Zählen. Wegsperren von spätestens 22 Uhr bis morgens gegen sechs. Donnerstags werden die Häftlinge in einigen Häusern der JVA schon nachmittags gegen fünf weggeschlossen. Wegen Personalmangels. 70 Vollzugsbeamte fehlen, hat die Gefangenenzeitung Lichtblick errechnet, weitere 35 sollen wegfallen. Die verbliebenen Beamten haben 40.000 Überstunden angesammelt, die nur abgebaut werden können, während die Häftlinge in ihrer Zelle sitzen.

Pater Vincens hat die Zigarre aufgeraucht. Sascha* ist da. Der Häftling ist für den Pater seit Jahren als Küster tätig, heute schleppt er die Bücher für den Religionskurs am Nachmittag. Jeder Gefangene kann daran teilnehmen und sich nach einem Jahr in der Gefängniskirche taufen lassen. Auf dem Hof ist es kalt und windig. An der Ecke, neben dem Bolzplatz, schaufeln zwei Häftlinge Bauschutt in eine Schubkarre. Sie sind Mitte zwanzig, kurzgeschoren, sitzen wegen Körperverletzung und gehören zu denen, die Pater Vincens für Gespräche mit Besuchergruppen ausgewählt hat. Für ihn ist, neben der „desolaten Sozialarbeit“, vor allem die Tatsache, dass viele Häftlinge den ganzen Tag herumgammeln, ein riesiges Versäumnis. 500 hätten in Tegel keinen Job. Eine Katastrophe, meint Vincens und sagt: „Im Wert der Arbeit treffen sich Marxismus und Christentum, weil sie erkannt haben, dass der Mensch durch Arbeit seinen Vollendungswert erfährt.“

Der Priester begrüßt seine Schützlinge mit Händeschütteln. Marko* hat übermorgen Ausgang. „Was brauche ich überhaupt für ne Karte, wenn ich mit der U-Bahn fahren will, Pater?“ Er braucht ABC, 4,20 Mark, der Priester hat sich informiert und eine mitgebracht. „Bis morgen“, kräftiger Hieb auf die Schulter, da fällt Pater Vincens noch was ein. „Sag mal, du machst doch gerne Salat ...“ Das Olivenöl ist er also auch losgeworden.

Der kurze Weg über den Hof dauert, hier ein Gruß, dort ein tröstendes Wort für einen Vollzugsbeamten, dessen Kinder krank zu Hause liegen. „Ich will nicht, dass die Gefangenen so was ausbaden müssen“, sagt Pater Vincens.

Drinnen ist alles ruhig. Zählzeit. Auf den dicken, braunen Einzelzellentüren kleben Schilder: „Belegt, 1 Mann“, an einigen, wegen des Platzmangels, auch „2 Mann“. Die Überbelegung ist für den Pater kein Argument. „Brummen müssen die“, sagt er. Aber dass sich draußen kaum einer findet, der die Amnestie ohne praktische Gründe aus reiner Nächstenliebe mitträgt, dass stattdessen in den täglichen Talkshows die Forderung nach längerem Wegsperren für alles und jeden nicht tot zu kriegen ist, kann er sich nur damit erklären, „dass die Leute keine Ahnung haben, was Knast bedeutet“.

Regelmäßig lädt er Bundeswehrsoldaten zum Werteunterricht nach Tegel ein. Die Fotos vom Pater mit Soldaten aus der ganzen Region, die „mit einer Kopf-ab-Einstellung hier hereinspaziert sind“ und die der Pater „Stunden später kaum von ihren Gesprächen mit Häftlingen losreißen“ konnte, sind an allen Wänden in seinem Büro verteilt. Im letzten Jahr haben Häftlinge und Soldaten gemeinsam in der JVA Weihnachten gefeiert. Zum für die Kirche Heiligen Jahr hat nun auch Papst Johannes Paul II. die Parole an seine Bischöfe ausgegeben: Besucht die Gefängnisse! Dass es viel nützen wird, glauben die wenigsten. Vincens' evangelischer Kollege Rainer Dabrowski aus dem Büro schräg gegenüber stellt resigniert fest, dass seine Arbeit nicht mal in der eigenen Kirche eine Lobby hat. „Ich glaube nicht, dass die Amnestie eine Chance hat, es sieht traurig aus.“ Anders als in Berlin und Brandenburg hat sich die bundesweite Vereinigung der evangelischen Gefängnisseelsorger dem Appell der katholischen Kollegen gar nicht erst angeschlossen.

* Namen geändert