Betroffenheit treibt Kids auf die Straße

Die Jugend fühlt sich von den Parteien vernachlässigt. Doch wenn Spaß und kurzfristiger Erfolg möglich sind, mischen sie sich in die Politik ein

von NADINE KRAFT

Schüler demonstrieren für ihre von der Abschiebung bedrohte ghanaische Klassenkameradin. Schüler sammeln Unterschriften gegen die Abschiebung ihres kroatischen Freundes. Schüler demonstrieren gegen Bildungsabbau. Jugendliche gehen wieder häufiger für ihre politischen Ideale auf die Straße. Der Vorwurf, die heutige Jugend sei unpolitisch, scheint nicht haltbar.

Das bestätigen auch die neuesten Forschungen des Politikwissenschaftlers Roland Roth, Professor an der Fachhochschule Magdeburg. „Seit den 50er-Jahren waren Jugendliche kontinuierlich an Protesten beteiligt. Formen und Themen ändern sich. Aber für einen relevanten Teil der Jugend gehören Protestmärsche zum Alltag“, betont Roth. Aber nur, wenn das Thema die Jugendlichen persönlich berühre.

„Marijan war ein guter Freund von mir. Die Art und Weise seiner Abschiebung war unmenschlich. Er hätte nur noch drei Monate bis zum Schulabschluss gehabt“, begründet die 16-jährige Anke von der Gustav-Freytag-Realschule in Reinickendorf ihr Engagement für den Kroaten. Auch nach Marijans Abschiebung am 21. März haben viele seiner KlassenkameradInnen nicht aufgegeben: Briefe an Innenminister Otto Schily (SPD) sollen nun eine Rückkehr Marijans erwirken. „Bei Themen, die mich aufregen, wie Tierquälerei oder eben Abschiebung, engagiere ich mich sehr“, sagt auch Marijans Mitschülerin Sabrina (16). Doch weiter geht ihr Engagement nicht. „Die große Politik interessiert mich wenig“, sagt sie.

„Wenn es um Abschiebung geht, vor allem bei Leuten, die ich kenne, gehe ich auch auf die Straße“, erzählt auch Nadja (17), Schülerin an der Robert-Jungk-Oberschule in Wilmersdorf. Deshalb habe sie auch gegen die Abschiebung ihrer Mitschülerin Charlotte demonstriert. Mit Erfolg. Der Aufenthalt der Ghanaerin ist nach Angaben von Schuldirektorin Ruth Garstka zunächst gesichert. Nadjas politisches Engagement erschöpft sich damit weitestgehend. Ökologie und Tierschutz seien zwar auch wichtige Themen, aber „ich habe keine Zeit zum Unterschriftensammeln, für welche Ideale auch immer“, sagt die Schülerin. In einer der großen Parteien würde sie sich verloren vorkommen. „Ich werde doch gar nicht ernst genommen. Die Erwachsenen würden es für eine Laune von mir halten, dort mitzumachen“, glaubt sie.

Ähnlich denkt auch Patrick, Schüler der zehnten Klasse der Robert-Jungk-Oberschule. Er sei zwar nicht „wild darauf“, in eine Partei einzutreten. Aber da dort die Jugend fehlt, würde er eine Gelegenheit zum Mitmachen nicht ausschlagen. „Was die Politiker beschließen, geht an unseren Interessen völlig vorbei“, regt sich der 16-Jährige auf. Überall werde Geld reingesteckt, nur die Schulen müssten sparen.

Politikerverdrossen, nicht politikverdrossen

Die Jugend ist nicht politik-, sondern politikerverdrossen. So nennt es Richard Münchmeier, Erziehungswissenschaftler an der Freien Universität. Er hat an der gerade erschienenen Shell-Studie „Jugend 2000“ mitgearbeitet. Die Jugendlichen hätten die „denkbar schlechteste Meinung von der aktuellen Politik, sind aber nicht unpolitisch“, betont Münchmeier. Engagement würden Jugendliche heute nur noch zeigen, wenn vier Faktoren aufeinander treffen: Die Sache muss Spaß machen und in kürzester Zeit ein Ergebnis haben. Außerdem müssen sie jederzeit wieder aussteigen und selbst darüber bestimmen können, was sie mitmachen. Dass diese vier Faktoren gleichzeitig auftreten, sei eher unwahrscheinlich. Deshalb führe dieses anspruchsvolle Modell zu Brüchen im politischen Engagement der Jugendlichen, erklärt Münchmeier.

Diese Erfahrung teilt auch die LandesschülerInnenvertretung. „Projektbezogenes Engagement ist nicht schlecht“, so ihr Pressereferent Peter Hartig. Doch wenn eine Schule gegen Abschiebung demonstriert, ist das für die anderen noch lange kein Anlass, dies auch zu tun. Überraschend ist das für Hartig aber nicht: Wer sich nur noch Sorgen darum machen müsse, ob er im nächsten Jahr seine Lernmaterialien erhalten wird, habe keine Zeit mehr für große politische Demos.

„Groß angelegte, mit viel Organisation verbundene Aktivitäten schrecken die Jugendlichen heute doch eher ab“, meint der FU-Politologe Peter Grottian. Er beobachte aber zunehmend, dass sich bei den Jugendlichen die Erkenntnis durchsetze: Nur was der Gesellschaft weh tut, bringt auch Erfolg. Deshalb glaubt er, dass sich die Proteste wieder mehr von den kleinteiligen Projekten zu groß angelegten Demos verändern würden.

Erste Beispiele gibt es schon: die Schülerdemos gegen Jörg Haider und für die Freilassung des amerikanischen Journalisten Mumia Abu-Jamal. „Selten hatten wir so viele spontane Mitstreiter wie bei den Demos gegen die Hinrichtung Abu-Jamals“, waren die beiden politisch sehr aktiven Jugendlichen Patrick (22) und Sven (19) selbst ein bisschen von ihren Altersgenossen überrascht. Zudem hätten sich auch einige gefunden, die weiter Flugblätter schreiben, Buttons verkaufen oder Infoveranstaltungen über den Journalisten in der Todeszelle organisieren.

Auch Manja (20), aktiv gegen Jörg Haider, kann Ähnliches berichten. Das Schülerbündnis, dass einen Streik gegen den Rechstpopulisten aus Österreich organisiert hatte, trifft sich im reduzierten Rahmen weiter und plant Veranstaltungen an Schulen. Manja beobachtet eine wieder zunehmende Organisierung Jugendlicher in Initiativen oder Jugendverbänden der Parteien. Es seien zwar nach wie vor wenige, aber doch insgesamt mehr als noch vor einigen Jahren, sagt sie. „Das politische Engagement ist da“, ist Manja überzeugt.