Homevideos vom Ende der Zivilisation

Mit fast dokumentarischer Präzision leuchtet ein FSK-Filmabend das Thema „White Trash“ aus  ■ Von Tobias Nagl

„Amerika ist nicht nur New York und Los Angeles“, sagt der heute 25-jährige Harmony Korine, Kids-Drehbuchautor und Regie-Wunderkind-Kind der amerikanischen Independent-Szene. „Der interessanteste und vergessenste Teil der USA liegt im Mittleren Westen.“

Korine trägt einen jener Vornamen, wie ihn Hippie-Eltern ihren Kindern gerne geben: Vater Korine, ein marxistisch inspirierter Dokumentarfilmer, zog jahrelang mit Familie durch God's Own Country, um die letzten Schwarzbrenner oder Zirkusclowns zu filmen. Kam die Familie an einer Universitätsstadt vorbei, nahm er seinen Sohn in die Filmclubs mit: Statt Mathematik standen dann Dreyer, Bresson oder Cassavetes auf dem Lehrplan. Hat man Glück, trifft man Harmony Korine heute eher Bier trinkend in den New Yorker Clubs der Lower East Side, etwa wenn Sonic Youth-Gitarrist Thurston Moore vor 20 Künstler-Freunden ein Free-Jazz-Konzert gibt. Korine kann dann reden wie ein Wasserfall. Das hat er mit Martin Scorsese gemein. Und so filmverrückt ist er auch.

Wenn er seiner Heimat im Mittleren Westen somit längst den Rücken gekehrt hat, bewegen sich seine Projekte dennoch in diesem nicht zuletzt biografischen Spannungsfeld. Filme machen ist für ihn nur in der Position eines auteur denkbar, der sich in der Tradition der verschiedenen nouvelles vagues des Nachkriegskinos versteht. Ohne final cut geht da gar nichts; Gummo, seine erste und bislang einzige Regiearbeit, schnitt er siebenmal um, um ein „R“-Rating zu erhalten. Formal am Dokumentarismus orientiert, hat sich Korine mit seinen Projekten bisher einen Namen gemacht als Chronist dessen, was man in den 90er Jahren auch gerne als white trash bezeichnete – eine Welt, die er, als intellektueller Außenseiter, nur zu gut kennt.

Gummo entfacht ein in grober, bisweilen halluzinatorisch verdichteter Homevideo-Ästhetik gedrehtes Panorama sozialer Dysfunktionalität, in dem wasserstoffblonde Haare tatsächlich noch wasserstoffblond sind, die T-Shirts abgetakelter 80er-Jahre-Metal-Bands wie Krokus mit dem Stolz der ewig Zu-Kurz-Gekommenen getragen werden und jede Mobilität längst zum Stillstand gekommen ist. Zumindest lassen das die auf den Verandas herumstehenden Autositze vermuten. Eine eigentliche Geschichte erzählt Gummo dabei nicht. Harmony Korine verfolgt vielmehr in teils geschriebenen, teils improvisierten oder dokumentarischen Schnappschüssen die beiden Jugendlichen Solomon (Jacob Reynolds) und Tummler (Nick Sutton) durch ihren Alltag in der Provinz von Ohio.

Von ihren BMX-Rädern aus jagen sie streunende Katzen und verkaufen deren Kadaver dem Supermarkt-Manager. Ist ihnen langweilig, schnüffeln sie etwas Klebstoff oder besuchen einen Nachbarn, der seine geistig behinderte Frau im Ehebett prostituiert. Andere Szenen gehören den Schwestern Dot (großartig: Chloe Sevigny) und Helen, die mit Klebeband ihre Brustnippel vergrößern. Oder jenem enigmatischen Skater, der ständig eine Playboy-Bunny-Ohren-Mütze trägt und ansonsten schweigt.

Korines Film war nie offiziell in Deutschland zu sehen, gehört aber zu den einflussreichsten der 90er Jahre. Nicht nur, weil selbst die Astra-Werbung längst dessen Sujet und Pop-Wissen als white trash chic inkorporiert hat oder Korine, wie übrigens auch ein Mike Kelly, mit dem Exploitation-Vorwurf leben musste. Gummo markiert einen wichtigen Umschlagpunkt auch kulturtheoretischer Debatten um ethnische Identität. Wenn, wie Stuart Hall argumentiert hat, „Rasse“ immer auch ein Modus sei, „Klasse“ zu leben, dann liefert Gummo samt seines Landproletariats dazu das passende kinematografische Handwerkszeug. Ins Zentrum rückt hier die Selbstwahrnehmung jener, die sich als unbeschriebenes Maß aller Dinge und Zentrum jeder Differenz verstehen: „Weiße“. Gummo lässt sich so auch als umgekehrte Enthnografie lesen, in der einmal whiteness in all ihrer Partikularität deutlich wird – ein Verfahren, das sonst nur gegenüber „Anderen“ zur Anwendung gelangt.

Deutlicher in dieser Hinsicht ist allerdings Bruno Dumonts La vie de Jésus, der das Setting von Gummo in die französische Provinz überträgt, sicherlich aber auch in einer der „national befreiten“ Zonen Ostdeutschlands spielen könnte. Die formalen Ähnlichkeiten sind verblüffend und beweisen, nebenbei gesagt, einmal mehr, mit wieviel Liebe die FSK-Filmabende zusammengestellt werden. Wo die Protagonisten in Gummo mit BMX-Rädern ihre Zeit totschlagen, tun sie das bei Dumont auf frisierten Mopeds. Wo Solomon und Tummler einer im Koma liegenden Oma das Atemgerät abschalten, begehen Freddy und seine Freunde einen rassistischen Mord.

Dumont erzählt dabei gradliniger, aber auch stummer. Auch seine Darsteller sind meist Laien, und wie im gerade angelaufenen L'humanité empfiehlt er sich bereits hier als ein Regisseur, dessen Politik eine Politik der Körper(-panzer) ist. Seine männlichen Anti-Helden erleben ihr von Arbeitslosigkeit gezeichnetes Leben nurmehr als eine Abfolge physischer Zustände der sexuellen Exstase oder des Geschwindigkeitsrauschs. Gut geht das so lange, bis der Körper des Arabers Kader in ihr Leben eintritt und in ihrem Revier zu wildern beginnt.

Wie in Gummo ist es dabei gerade der lakonische Verzicht auf jegliche Dramatik, psychologische Tiefe oder Erlösung, der – anders als American History X oder Fight Club etwa – La vie de Jésus zu einer der besten Studien der Auflösung gesellschaftlicher Verhältnisse macht.  

Gummo: heute, 20 Uhr; La vie de Jésus: heute, 22 Uhr; beide Metropolis