Deutschland Wunderland

■ Noch immer ist nicht klar, wer Alice ist. In einer frei nach Lewis Carroll entstandenen Produktion des Jungen Theaters ist sie eine Brasilianerin auf Besuch. Alice und das Publikum erleben ein kurzweiliges Spektakel

Who The Fuck ... Steht auch auf dem Programmheft. Desweiteren bleibt uns das Stück vom Müllhaufen der Musikgeschichte erspart. Vielen Dank. Stattdessen gibt's andere Töne zu hören. Bach, dunkle Streicher, Volksmusik. Und, natürlich, brasilianischen Pop. Man muss nicht in Südamerika musikalisch sozialisiert sein, um Alice nur allzu gut zu verstehen, wenn sie sich lautstark über tanzende Partydeppen („Tanze samba mit mir“, oder so) beschwert: Im Original sei das wirklich ein schönes Lied. Wohl wahr. Momentchenmal, das konnte Alice doch gar nicht wissen, eigentlich.

Vielleicht haben Anke Thiessen und Ralf Knapp diesen Abend darum so vorsichtig überschrieben: „ALICE? (äußerst frei nach Lewis Carroll)“ Oje, spät bin ich dran, murmelt das Kaninchen. Es ist nicht weiß, sondern schwarz gekleidet. In Jeans und T-Shirt rollt es eine Tonne um die Bühne, stellt sie auf und verschwindet. So weit, so Carroll. Alice schaut ihm nach. Dann entfaltet sie einen Zettel und verliest (auf brasilianisch) eine Vermisstenanzeige, die sie uns netterweise gleich übersetzt. Anders als im Klassiker erzählt sie ihre Geschichte selbst.

Es ist die Geschichte der Alice-Schauspielerin. Eindrücke des „Mädchens aus dem Urwald“ sie wird zur Begrüßung mit Fussball, Federn und Trommel beschenkt auf dem Weg nach Deutschland (und ins Junge Theater). Ihre Erfahrungen im „Wunderland“ Deutschland werden am Roman gespiegelt. In beiden Fällen: Was denen „dort“ normal vorkommt, ist für die Ankommende grotesk, schräg, unverständlich. Mal interessant, mal irritierend.

Beide Erzählstränge sind strukturiert durch eine Aneinanderreihung von Situationen und Theaterbildern, die oftmals genauso plötzlich enden wie sie auf der Bildfläche erschienen. Knapp/Thiessen unterstützen das Fragmentarische noch, indem sie die vier SchauspielerInnen die Szenen oft „mittendrin“ abbrechen lassen. Die eben noch Figuren waren schlendern als Spielende in den Bühnenhintergrund, unterhalten sich sogar über die gerade gespielte Szene.

AliceHeidiLianeVanessa sitzt vor der Bühne, singt: „Mein Hut der hat drei Ecken ...“ Dazu klopft sie einen viel zu komplexen Rhythmus auf eine Trommel. Die Stimme verheddert sich in den Worten. Der Gesang verebbt, scheitert am – Takt. Überhaupt spielt Musikalität eine wichtige Rolle. Wie eine collagierte, polystilistische Komposition wirkt das Bühnengeschehen. Atmosphäre entsteht durch klare oder sich überlagernde Stimmen, durch das Spiel mit Tonlage, Lautstärke und Tempo. Schön die bedrohliche Situation auf dem Amt. Die „Solistin“ wird rezitativartig von den Beamten niedergebrüllt, bis sie kaum mehr herausbringt als ein repetitives „Entschuldigung“. Schön auch das Herumtragen knallroter Aktenordner zu Zappas „G-Spot Tornado“. Das stammt aus dessen „Yellow Shark“-Projekt, welches sich als weiterer Bezugspunkt immer wieder in „ALICE?“ einschleicht. Auch da geht es um die feinen Unterschiede, um Fremdheitserfahrungen.

Diese Musikalität sorgt dafür, dass aus „ALICE?“ ein kurzweiliger, rasanter Abend wird. Oft spiegeln sich – wie in der unerträglichen Übersetzung des Songs in der eingangs genannten Partyszene – Bilder. Betrachtet man die Wechselwirkungen, kommen die Deutschen mit ihren Bildern von sich und anderen deutlich schlechter weg. Zu Recht. Nicht, weil es in Brasilien oder im Wunderland so toll, sondern weil hier alles so desolat ist. Jemand hat das mal „durchgedrehten Normalismus“ genannt.

Neugierig aber auch zurückhaltend betrachtet Alice, der Vanessa Lutz ein beeindruckendes Maß an positiver Naivität verleiht (an der die Figur freilich ein ums andere mal scheitert) die neue alte Welt. Auch 'ne schöne Verdrehung. Ihre diversen Gegenüber spielen Axel Deller, Claus Franke und Liz Hencke virtuos und mit ausgeprägtem Sinn fürs grotesk-Komödiantische. Das wiederum droht pausenlos in Schrecken überzukippen. Viel von diesem bekloppten Alltag erkennt man wieder. Manchmal sogar sich selbst. Tim Schomacker

Aufführungen: 7. bis 9., 12. bis 14. sowie vom 19. bis 24. April um 20 Uhr in der Schwankhalle, Buntentorsteinweg 112