Ein Schuss von Surrealität

Der FC Chelsea erwischt einen seiner guten Tage, schlägt den FC Barcelona im Viertelfinale der Champions League glorreich mit 3:1 und bereitet den Boden für ein großes Rückspiel

aus LondonRONALD RENG

Zu den unsympathischsten Erscheinungen des modernen Fußballsports gehört der Wendehals-Fan. Der ins Stadion geht, weil es jetzt schick ist, und der immer zu der Elf hält, die gerade hip ist. Der sich nur mit Siegern identifiziert, aber keine Vereinstreue mehr kennt. Hier war wieder so einer: Am Dienstag schwärmte er vom FC Barcelona, „dessen Angriffsspiel unglaublich ist, die drei Stürmer sind die besten der Welt“. Am Mittwoch, als Barcelona das Viertelfinal-Hinspiel der Champions League gegen den FC Chelsea 1:3 verloren hatte, tönte er, den Kopf rot vor Aufregung: „Chelsea war fantastisch“ und sprach plötzlich sogar in der Wir-Form vom Londoner Club: „Ich denke ernsthaft, wir waren groß.“

Der Mann sei entschuldigt: Es war Gianluca Vialli, Chelseas italienischer Trainer. Er ist ein liebenswerter, schrulliger Perfektionist, der zu oft nur sieht, was andere Trainer besser machen als er, und deshalb war seine Schwärmerei für Barça vor dem Spiel vermutlich echt – die Begeisterung über sein Team danach natürlich sowieso. Chelseas Sieg war eine Überraschung; allerdings eine mit Ankündigung: Bei all seinem mitreißenden Angriffsfußball in der Vor- und Zwischenrunde hatte Barcelona auch etliche Hinweise gegeben, dass es irgendwann stolpern könnte. Zu sehr entblößt es die Defensive. Jeder Schuss war ein Treffer zwischen der 30. und 38. Spielminute für Chelseas Stürmer Gianfranco Zola und Tore Andre Flo. Es schien surreal zu werden im Stadion an der Stamford Bridge. Erst das 3:1 durch Barças Spielführer Luis Figo brachte einen Hauch von Wirklichkeit zurück.

Alle paar Wochen erwischt Chelsea so einen Tag: an dem plötzlich alles klappt, an dem sie mit jedem Team der Welt mithalten können. Um sich auf Dauer mit Mannschaften wie Barcelona vergleichen zu können, fehlt dem Tabellenfünften der englischen Premier League die Konstanz und letztendlich wohl auch individuelle Qualität. Aber sie machen das Beste daraus, indem sie ihre Höchstform regelmäßig in Pokalwettbewerben abrufen. Meisterschaften gewinnt man mit Beharrlichkeit, Pokale mit Tagesform. Chelsea hat in seinen zwei Jahren unter Vialli bereits den Europacup der Pokalsieger sowie den englischen FA- und Liga-Pokal gewonnen.

So ein Tag: Didier Deschamps, Chelseas defensiver Mittelfeldmann, hat diese Saison selten überzeugt, sodass es schon merkwürdig wirkte, warum in der französischen Nationalelf noch immer er und nicht Patrick Vieira von Arsenal London spielen darf – gegen Barcelona war Deschamps Weltklasse. Zola und Flo hatten zu oft schon agiert, als sei Schönheit der einzige Sinn des Spiels – am Mittwoch waren sie unwiderstehlich. Fleißig übt Zola, der wegen seiner Ähnlichkeit mit einem O-beinigen Fernsehhelden Fonzy gerufen wird, nach dem Training Freistöße, nun verwandelte er erstmals in dieser Saison einen. „Nein, ich habe dieses Jahr schon einen reingemacht“, protestierte er. Gegen wen? „Gegen, gegen ... ich weiß nicht.“ Gelächter. „Doch, doch: Keiner von euch war da, aber ich habe schon ein Freistoßtor.“ Mehr Gelächter. „Also gut, es war ein Vorbereitungsspiel. Aber für mich zählt das auch.“

Zola und Flo sind technisch sehr stark, körperlich und gedanklich schnell; und somit prädestiniert, Barcelonas Defensivprobleme hervorzuheben. Barças Verteidigern Frank de Boer und Abelardo mangelt es an Tempo, zudem erhalten sie aus dem Mittelfeld keine Absicherung. Als Barcelonas Trainer Louis van Gaal noch bei Ajax Amsterdam arbeitete und mit demselben Spielsystem 1995 die Champions League gewann, hatte er in Danny Blind einen, der den Libero vor der Abwehr gab; solch ein Sicherheitsdienst fehlt bei Barcelona und stellt somit das mutige Van-Gaal-System auf wacklige Beine. Obwohl Barcelona bessere Einzelspieler hat als damals Ajax. Frank de Boer hat in beiden Teams gespielt: „Mit Ajax konnten wir ein Spiel 90 Minuten kontrollieren, mit Barça können wir das nicht, weil die Stürmer plötzlich nicht mehr ihren Job machen.“

Tatsächlich ging Chelseas erstem Tor ein dämliches Handspiel von Stürmer Figo und dem zweiten ein halbherziger Einsatz von Rivaldo voraus. Chelseas Trainer Vialli formulierte es positiv: „Wir waren ziemlich gut darin, sie schlecht aussehen zu lassen.“

Die einzige Gewissheit, die der aufwühlende Fußballabend von London hinterließ, ist die: Es wird ein großes Rückspiel. 39 Tore in 13 Spielen hat Barcelona in dieser Champions-League-Runde geschossen, Beleg genug, dass sie den Rückstand wettmachen können, „die Tormaschine, die sie sind“, wie Vialli sagte. Vielleicht sollte ihm noch jemand sagen, dass das Match im Nou Camp in Barcelona stattfindet, damit er auch kommt. Am Mittwoch sagte Chelseas Trainer, er fahre zum „aufregenden Spiel ins San Bernabeu“ – das ist das Stadion von Real Madrid.

Zuschauer: 34.000; Tore: 1:0 Zola (30.), 2:0 Flo (34.), 3:0 Flo (38.), 3:1 Figo (64.)