Bionisches Leben

Biochips und Neuroprothesen ermöglichen, dass Blinde wieder sehen und Querschnittsgelähmte wieder auf eigenen Beinen stehen können. Die Verschmelzung von Mensch und Computer schreitet unaufhaltsam voran

von CLAUDIA BORCHERT-TUCH

Mit Stromstößen brachte Luigi Galvani Froschschenkel zum Zucken. Heute – zweihundert Jahre später – ist der Stromfluss auch in umgekehrter Richtung möglich: William Ditto vom Georgia Institute of Technology und Ronald Calabrese von der Emory University verbanden die Nervenzellen von Blutegeln mit einem Computer, der Signale an die Zellen schickt und aus den Zellreaktionen die richtige Lösung eines Rechenproblems findet.

Auf verschiedene Stromstöße antworteten die Zellen ihrerseits mit bestimmten Impulsen, die Zahlen bedeuten. Computergesteuert programmiert so ein Stromstoß eine Nervenzelle mit einer Zahl, und durch gleichzeitige Reizung zweier Nervenzellen und anschließende Messung des von ihnen zusammen abgegebenen Stromstoßes zählt man zwei Zahlen zusammen. Das Programm, das für die Verbindung zwischen Nervenzellen und PC verwendet wird, ist als „Wetware“ bekannt und basiert auf der Chaostheorie – es benutzt die erhaltenen Impulse dazu, die Nervenzellen aufeinander abzustimmen und die Art ihrer Kommunikation zu verändern.

Sollten die Forscher erfolgreich sein, könnten sie die Grundlage für Computersysteme schaffen, deren Funktionsweise der des menschlichen Gehirns ähnelt – Systeme, die selbstständig nach Problemlösungen suchen. Ditto rechnet damit, dass seine Biocomputer frühestens in zehn Jahren marktreif sein werden. Eine Schwierigkeit muss noch überwunden werden: Nachdem sie an den Computer geschaltet wurden, überlebten die Nervenzellen nur drei bis vier Stunden. Calabrese hofft, die Nervenzellen in einer Nährlösung, die das Überleben sichert, auf einem Silikonchip platzieren zu können.

Dies ist US-Forschern der Universität Berkeley bereits gelungen. In ihrem so genannten Bionic-Chip regelt eine einzige menschliche Zelle den Stromfluss in einem mikroelektronischen Schaltkreis. Der neue Chip nutzt die Entdeckung, dass eine natürliche Zelle in einem Schaltkreis wie eine elektrische Diode funktionieren kann oder wie ein Schalter, der Strom nur bei bestimmten Spannungen durchlässt. „Die biologische Zelle leitet keinen Strom, bis dass eine bestimmte Spannung erreicht ist. Dann öffnet sie ihre Poren in der Zellmembran und startet den Fluss durch die Zelle. Die Durchlassspannung ist für jeden Zelltyp verschieden. Der neue Bionic-Chip bestimmt automatisch die richtige Spannung, und ist dies einmal geschehen, scheint es, als habe man eine ferngesteuerte Kontrolle über eine Tür“, fasst Boris Rubinsky von der Universität Berkeley das Prinzip des Bionic-Chips zusammen. Rubinsky ist überzeugt, dass mit seiner Vereinigung von menschlicher Zelle und Computer vieles möglich sein wird: vom Biocomputer bis zu neuen Therapiemethoden gegen Erbkrankheiten oder Testverfahren für Medikamente.

Während die Übertragung elektrischer Impulse einer Nervenzelle auf einen Halbleiter bisher zumeist nur im Labor funktioniert, gehört der umgekehrte Leitungsweg schon längst zum klinischen Alltag: Elektroden von Neuroprothesen wie das Kochlea-Implantat im Innenohr oder der Harntraktsimulator sind in der Lage, Sinnesempfindungen und Reizantworten auszulösen, die ausgefallene Körperfunktionen ersetzen. Bei der Innenohrprothese reizen statt Sinneszellen Elektroden die Nervenzellen, so dass ein bislang Gehörloser Geräusche wahrnimmt.

Auch Blinde werden möglicherweise bald mit Hilfe einer Augenprothese sehen können. William Dobelle, Leiter des Dobelle-Instituts in New York, und 300 andere Wissenschaftler entwickelten in 30 Jahren Forschungsarbeit eine einsatzfähige Sehprothese. Sie ermöglichte es vor kurzem einem Mann, nach 26 Jahren Blindheit wieder sehen und sich im Großstadtgetümmel frei bewegen zu können. Der 62-jährige Patient namens Jerry nimmt seine Umwelt jedoch nicht wie andere Menschen wahr. Mit Hilfe weißer Lichtblitze erkennt er nur deren Umrisse auf einer schwarzen Hintergrundfläche von der Größe einer auf Armeslänge gehaltenen Tafel Schokolade.

Doch dies genügt, um fünf Zentimeter große Buchstaben in anderthalb Meter Entfernung zu erkennen. Die Sehfähigkeit wird durch eine Minikamera, einen 2,5 Kilogramm schweren tragbaren Computer und ein flaches Elektrodenplättchen in Jerrys Gehirn erzeugt. Die kleine Videokamera auf einer Brille fängt Bilder ein, die der Neurocomputer in Signale umwandelt. Diese Bildinformationen werden über eine Datenleitung an das Plättchen mit den 68 Platinelektroden geschickt, das auf der Großhirnrinde liegt und die Signale an das Sehzentrum weitergibt.

Ende des Jahres soll das „Dobelle Eye“ auf den europäischen Markt kommen und irgendwann einmal – wie Dobelle verspricht – nicht mehr als ein Blindenhund kosten. Damit ist Dobelle anderen Forschern weit voraus. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass er im Gegensatz zu diesen das natürliche Sehsystem mit Linse, Netzhaut und Sehnerv nicht in Anspruch nimmt.

Seine Kollegen wollen dagegen das noch gesunde Nervensystem der Netzhaut und die Optik des Auges in den Sehvorgang mit einbeziehen. So will das Projekt von Eberhart Zrenner an der Universitäts-Augenklinik Tübingen nur den Ausfall der Netzhautzellen durch einen unter die Netzhaut eingesetzten Mikrochip ersetzen. Eine äußere Kamera oder ein externer Computer zur Wiederherstellung von Seheindrücken sind bei diesem Ansatz nicht nötig. Natürliche Augenbewegungen lokalisieren die zu sehenden Dinge, sodass die Außenwelt in Abhängigkeit von der Augenstellung in den korrekten inneren Koordinaten abgebildet wird.

Zrenner entwickelte als Implantat eine Matrix von hochempfindlichen Mikrofotodioden. Über Elektroden, die unmittelbar mit den Fotodioden verbunden sind, werden intakte Nervenzellen der Netzhaut, die krankheitsbedingt ihre Fotorezeptoren verloren haben, gereizt. Der Chip enthält alle wesentlichen Grundfunktionen der Lichtumwandlung und Nervenzellreizung der Netzhaut. Zrenner ist mit seinem bisherigen Erfolg zufrieden: „Wir haben jetzt alle Bausteine in der Hand: Wir haben den Chip gebaut, wir haben gelernt, wie man ihn prüft, wir wissen, dass die Netzhaut ihn gut erträgt und dass bei einer Erblindung genug Zellen vorhanden sind, die man ankoppeln kann.“ Als Problem erweist sich allerdings die Siliziumschutzschicht des Implantats, die nach zehn Monaten in Kaninchenaugen „wie von Karies befallen war“ (Alfred Stett, Universität Reutlingen). Deshalb suchen die Forscher nach Kunststoffen, mit denen sie das Implantat abdichten können.

Während das Tübinger Netzhautimplantat die natürlichen Lichtempfänger an Ort und Stelle ersetzt, verarbeitet die Augenprothese einer Forschergruppe aus Bonn die Informationen außerhalb des Körpers und sendet sie dann an die Nervenzellen der Netzhaut. Das Epiret-Pojekt unter der Leitung von Rolf Eckmiller sieht wie Dobelle eine Kamera vor, die ihre Signale an einen in einer Brille integrierten Minicomputer schickt. Dieser externe Neurocomputer filtert die Signale der Kamera, verrechnet sie und schickt sie drahtlos an ein Implantat, das – im Gegensatz zur Zrenner-Methode – nicht unter, sondern auf der Netzhaut liegt und dort die Nervenzellen reizt.

Nach Angaben von Zrenner hat das Bundesforschungsministerium für beide Projekte inzwischen weitere Finanzmittel in Höhe von zehn bis zwölf Millionen Mark für die nächsten drei Jahre bewilligt. Mit der „Ferrari-versus-Mercedes-Situation“, so Zrenner, also dem Wettstreit zwischen Epi- und Subretina-Forschergruppe, solle allerdings Schluss sein.

Ungleich schneller kommt die Entwicklung von elektronischen Gehmaschinen voran. So hat ein Querschnittsgelähmter mit Hilfe eines implantierten Elektronikchips im Bauch bereits erste Schritte gemacht. Er ist Teilnehmer an einem europäischen Industrieprojekt, das den Namen Calies (computer aided locomotion by implanted electrostimulation) trägt. „In Europa gibt es 300.000 Menschen, die, häufig aufgrund eines Verkehrsunfalls, an den Rollstuhl gefesselt sind“, sagt Pierre Rabischong von der Forschungsorganisation Inserm, die die Calies-Gehmaschine konstruiert.

Bei einer Querschnittslähmung sind die Nervenfasern und Nervenzellen im Rückenmark zerstört. Weil die Befehle vom zentralen Nervensystem nur bis zur Verletzungsstelle im Rückenmark kommen, erhalten die Muskeln der Arme oder Beine keine Befehle mehr. Ein elektronischer Schrittmacher verleiht Querschnittsgelähmten Selbstständigkeit. Dabei sitzt das motorische Steuerzentrum von der Größe eines Walkmans am Gürtel des Gehbehinderten: Der Computer steuert über ein Implantat unterhalb des Bauchnabels die Bewegungen der Beine. Aus diesem Mikrochip entspringen 24 Kabel, die zu Elektroden an Hüfte, Oberschenkel und Kniegelenk führen.

Will der Querschnittsgelähmte einen Schritt machen oder sich setzen, drückt er auf einen entsprechenden Knopf an einem Gehstock – der Bewegungsbefehl wird über den Computer an den entsprechenden Muskel geleitet. Die Muskeln kontrahieren, der Patient vermag selbstständig aufzustehen, zu stehen oder gar zu gehen – vorausgesetzt, die Kontraktionen erfolgen koordiniert und ohne größere Störungen. Hierzu werden mathematische Modelle der physiologischen Abläufe, Computersimulationen und biomechanische Bewegungsanalysen eingesetzt.

Inzwischen sind an der Humboldt-Universität Berlin und an der Universität Tübingen Neuroprothesen entwickelt worden, die eine noch vorhandene, willentlich kontrahierbare Muskulatur des Armstumpfes nutzen, um Armbewegungen auszuführen. Die beim Anspannen dieser Muskulatur auftretenden elektrischen Potenziale werden abgegriffen, verstärkt und zur Steuerung von Stellmotoren in der Prothese genutzt.

Zurzeit scheint es noch ein weiter Weg zu sein, bis alle Gelähmten wieder gehen und alle Blinden wieder sehen können oder gar die ersten Biocomputer marktreif sind. Eines aber zeigt die Entwicklung: Eine Kopplung von Mensch und Computer ist möglich. Und wo hier die Grenzen liegen, ist offensichtlich nicht eine technische, sondern eine ethische Frage.