„Vielseitigkeit füllt mich aus“

Mit 60 Jahren endlich Mensch sein: Der Jazzer Herbie Hancock über Musik als Ausdruck des Lebens und seine Lehrjahre mit Miles Davis, über Improvisationsdialoge via Internet, sein etwas anderes Tribut-Album „Gershwin’s World“ und die Fallen des Neotraditionalismus

taz: Mr. Hancock, Sie feiern dieser Tage ihren 60. Geburtstag. Wenn Sie auf ihre Karriere zurückblicken, was hat sich alles im Laufe der Jahre verändert?

Herbie Hancock: Früher habe ich mich vor allem als Musiker gesehen. Heute sehe ich mich als Mensch, der Musik macht. Ein Mensch, der aber auch Nachbar, Ehemann und Sohn ist. Früher habe ich alles der Musik untergeordnet. Meine Selbstfindung als Mensch ist die wichtigste Entwicklung, die, wie ich finde, auch meine kreative Arbeit erweitert hat. Musik hat nichts mit B-Dur oder d-Moll zu tun – es ist ein Ausdruck des Lebens, sie erzählt Geschichten.

Als ich in den Sechzigern mit Miles Davis spielte und begann, eigene Projekte zu starten, war noch alles ganz überschaubar. Heute schreibe ich Soundtracks, mache TV-Shows, Videoproduktionen und Reklamemusik, gerade habe ich auch eine eigene Plattenfirma gegründet. Solche Dinge füllen mein jetziges Leben aus, ähnlich wie damals die Musik mit Miles. Vielseitig zu sein erweitert den Horizont.

Als ich mit Miles spielte, da war ich in den Zwanzigern, das waren eindeutig meine Lehrjahre. Mittlerweile habe ich gelernt, mich in verschiedensten musikalischen Genres auszudrücken. Mir geht es heute darum, Menschen zu erreichen, die nicht erst meine gesamte Jazzkarriere studieren müssen, um meine neueste Platte zu hören.

Sie sind heute häufig im Internet präsent, sei es durch Audio-Interviews oder Webcasts Ihrer Konzerte, wie jüngst aus dem New Yorker Jazzclub Blue Note ( www.jazznetradio.de , d. Red.). Ist das Internet für Ihre Arbeit wichtig?

Der Umgang mit dem Internet ist noch immer stark vom linearen Denken bestimmt, da bewegen wir uns noch im 20. Jahrhundert. Angesagt wäre ein Denken, das gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen und in mehrere Richtungen geht. Das Internet gibt es her, doch dieser interaktive Ansatz wird kaum realisiert.

Heute im Internet aufzutreten ist vom Ansatz her einem Fernsehauftritt ähnlich – außer dass das WWW global und somit tendenziell für alle Menschen zugänglich ist. Aber das Internet wird sich entwickeln und damit auch jene Produkte, die den Gebrauch der interaktiven Elemente fördern. Man kennt das ja im Ansatz schon von einigen Spielen, die im Internet, aber nicht über TV möglich sind. Im Internet ist die Zusammenarbeit der Menschen, die Diskussion und Entwicklung neuer Ideen möglich: Der einzelne Mensch ist nicht mehr zum Glotzen verurteilt, sondern kann aktiv – und kreativ – werden.

Sie haben auch Duo-Konzerte gegeben, bei denen Sie mit einem Partner, der sich zum gleichen Zeitpunkt in einer anderen Stadt aufhielt, via Internet improvisierten. Ist das bereits eine neue Qualität der Musikproduktion und -performance?

Es unterscheidet sich noch nicht so recht von Studio-Settings – nur dass für die Internet-Performance die technischen Möglichkeiten sowie das elektronische Equipment noch unzureichend sind. Für den Jazz ist die intime Atmosphäre eines Clubs bislang einfach unersetzbar.

Von Miles Davis habe ich sehr viel über die physische Qualität der Performance gelernt. „Der Beat kommt über den Boden“, hat er gesagt – und das war zu einer Zeit, als es üblich war, dass Schlagzeug und Musiker auf derselben Ebene stehen. Wenn das Drum-Set erhöht gebaut ist, wird dieser Effekt verzerrt, man ist getrennt. Wenn nun alle auf einer Bühnenebene sind und jeder mit dem Fuß wippt, dann kann das heißen, dass jeder in einem eigenen Rhythmus spielt. Das kann asynchron sein. Wenn man aber seinen Fuß still hält, kann man den Rhythmus spüren, der vom Schlagzeug kommt. Meist kommt von daher das Timing im Jazz.

Meine bisherige Erfahrung bei der Improvisation mittels Internet ist, dass man physisch gesehen nicht in time ist. Und dass das Equipment, das diese Komponente ersetzen könnte, noch nicht verfügbar ist. Vielleicht müsste man den Boden mit lauter kleinen Sendern vernetzen, die auf die Daten reagieren, die vom Drum-Set ausgehen, und sie in physisch erfahrbare Schwingungen umsetzen ...

Ihr Album „Gershwin’s World“ erschien vor zwei Jahren. Mit diesem Programm touren Sie noch immer wie jetzt durch Deutschland. Was ist daran so besonders?

Ich würde „Gershwin’s World“ als meine bislang ambitionierteste Platte bezeichnen, ihr liegt ein revolutionäres Konzept zugrunde – etwas, das ich so noch nie gehört habe. Es begann als ein reines Produzentenprojekt, und die Idee des Produzenten Robert Sadin war, dass jedes Stück in ein anderes Setting eingespeist wird: möglichst ungewöhnliche Instrumentierung und eine Hancock-untypische Besetzung.

Gershwins Kompositionen reichen, historisch gesehen, als Baustein für eine gute Jazzplatte aus – man spielt das Thema und improvisiert darüber. Diesen Mechanismus wollten wir durchbrechen.

Neben Gershwin-Songs finden sich auf der Platte auch Bluesstücke und eine Duke-Ellington-Interpretation ...

Vor Gershwin war der Blues, und deshalb nahmen wir W. C. Handys „St. Louis Blues“ auf, um die Herkunft dieser Musik zu würdigen. Ebenso verhält es sich mit dem James-P.-Johnson-Stück, „Blueberry Rhyme“: Diese Klaviermusik hat Gershwins Kompositionen und sein eigenes Klavierspiel stark beeinflusst. Und Duke Ellingtons „Cotton Tail“ haben wir aufgenommen, weil es vor allem auf Gershwins Komposition „I Got Rhythm“ basiert, die zu einer ganz wesentlichen Grundlage des Jazz wurde und die – im Gegensatz zum Blues, der ja eher anonymisierte Volksmusik ist – von einem einzelnen Komponisten erfunden wurde.

Auf „Gershwin’s World“ spielen Sie mit Interpreten zusammen, die man nicht an Ihrer Seite vermuten würde: Joni Mitchell etwa, die Opernsängerin Kathleen Battle, den jungen Saxofonisten James Carter ...

Es ist überhaupt das erste Mal, dass auf einer meiner Jazzplatten gesungen wird! Mit Joni Mitchell habe ich früher schon aufgenommen, auf ihren Platten, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie so tief im Jazz verwurzelt ist. Bevor sie zum Folkrock kam, hörte sie Miles Davis, Charles Mingus und Billie Holiday, und das spürt man. Und Kathleen Battle, die Opernsängerin, ist eine meiner großen Heldinnen.

James Carter wiederum hat den Ton der älteren Musiker und einen avantgardistischen Ansatz – er konterkariert durch sein Spiel die gegenläufigen Richtungen. Er malt sie aus und bringt sie auf den Punkt. Er badet regelrecht in den verschiedenen Schulen, die einst auf Kriegsfuß miteinander standen. Carter spielt nicht nur Akkorde, er bringt Geschmack und Farbe in die Musik.

Stevie Wonder ist für seine Mitwirkung an „Gershwin’s World“ bereits mit einem Grammy ausgezeichnet worden. Wie kam es zu ihrer gemeinsamen Version von „St. Louis Blues“?

Stevie und ich sind schon seit langem gut befreundet. Vor fünfundzwanzig Jahren war ich zum ersten Mal auf einer seiner Platten dabei, „Songs In The Key Of Life“. Stevie ist sehr am Jazz interessiert, und ich bin sicher, dass er einmal eine wirklich spannende Jazzplatte machen wird. Wir haben bereits darüber gesprochen, und er übt ständig das Improvisieren über die Standards, wie es im Jazz üblich ist. Und natürlich hört er sich auch an, wie Herbie Hancock es macht.

Wie heben sie ihren Ansatz von dem der Neotraditionalisten um Wynton Marsalis ab?

Ich sehe Wynton Marsalis eher als Historiker, seine Musik erinnert mich an Duke Ellington. Dass Wynton sehr viel Aufmerksamkeit auf diese Musik gelenkt hat, finde ich gut so. Aber alles, was den Hauch von Engstirnigkeit und Begrenztheit hat, ist nicht mein Ding.

Ich kenne einen jungen Jazzbassisten, der mich um Rat fragte, weil er Angst hatte, eine Funkplatte aufzunehmen wegen der womöglich negativen Reaktion Wyntons darauf. Ich finde das höchst erschreckend. Dass ein junger Musiker heute so empfinden muss – dass er nicht mehr die Freiheit hat, das auszudrücken und zu spielen, wozu er wirklich Lust hat. In dieser Hinsicht kann Wynton anderen Menschen großen Schaden zufügen. Ich finde das sehr unfair. Das meine ich sehr ernst, und das habe ich ihm auch gesagt.

Ihr eigenes Plattenlabel, das Sie gerade gegründet haben, heißt Transparent Music. Was schwebt Ihnen damit vor?

Transparent Music ist mehr als ein weiteres Plattenlabel – es ist eine musikbasierte Konzeptplattform, auf der wir Produkte empfehlen, die einem hohen Qualitätsniveau verpflichtet sind und gleichzeitig das Lebensgefühl bestimmter Gruppen zum Ausdruck bringen. Wenn man diese Musik kaufen möchte, wird man von unserer Seite zu amazon.com oder Tower Records weitergeleitet, und wir bekommen dann von denen eine Provision. Aber natürlich werden wir auch eigene Produktionen veröffentlichen.

Was wird da kommen?

Zum Beispiel werde ich eine CD mit Bill Laswell machen.

Das klingt nach Möchtegern-Avantgarde.

Nun, ich würde es eher rockorientierte Musik mit viel Elektronik nennen. Aber ja, ich weiß, was Sie meinen.

Sie meinen zielgruppenorientierte Musik?

Genau darum soll es bei unseren Eigenproduktionen gehen.Interview: CHRISTIAN BROECKING

Tourdaten: 8. 4. Hamburg, 9. 4. Stuttgart, 10. 4. Berlin, 11. 4. Frankfurt a. M., 12. 4. München, 13. 4. Düsseldorf