Volkshochschule und Kaderschmiede

■ 65 Semester an der Uni und ein bisschen weise oder Elite-Ingenieur im Crash-Kurs: Fünf Studiende im Porträt

Der Pflicht zur Bildung verfallen

Nein, er sei nicht der Älteste, es gäbe vier, die noch länger studieren, behauptet Putzi von Rosenfeld. Der Name, den er als Pseudonym wählt, damit die Leute nicht mit dem Finger auf ihn zeigen, soll „adelig“ klingen. Von Rosenfeld redet nicht gern über Geld und die Frage, wie er sein Studium 47 Semester lang finanzierte. Solange, sagt er, habe er gebraucht, um alle seine „Wissenslücken“ aufzufüllen. Anschließend blieb er noch 18 Semester pro forma eingeschrieben und hielt sich mit Kleinjobs im Umfeld des Asta-Kulturreferats über Wasser.

65 Semester, rechnet man dies in Jahre um, so muss es wohl 1968 gewesen sein, als der junge Abiturient von Rosenfeld sein Mathe- und Physikstudium begann. In Mathe habe er sogar ein Vordiplom mit „sehr gut“ bestanden und gemerkt, dass er Prüfungen bewältigen kann, sagt er. Warum also nicht weiter so? Weil sein Deutsch-Lehrer am Kieler Gymnasium ehemaliger HJ-Vertrauenslehrer war. Solche Sachen und „Familiäres“ galt es aufzuarbeiten. Er hatte „Kenntnis- und Verständnislücken“ die „sehr groß“ waren, sagt von Rosenfeld. Literatur, Politik, Soziologie, er belegte, was er benötigte, quer durch die Fachbereiche. Nicht aus Vergnügen, es war „eher meine Pflicht, diese Wissenslücken auszufüllen“. Als er damit fertig war, nach 20 Jahren, im Winter 91-92, verspürte er den Drang, sein Wissen über die Kultur an andere weiterzugeben. Ein Engagement in der Shakespeare-Company sei allerdings an „Schauspielerstreitigkeiten“ gescheitert. Von Rosenfeld, der denkt, dass Professoren ihn in Vorlesungen trotz seiner langen Haare aufgrund seines Alters für einen „Spitzel“ halten, versuchte sein Glück als „Kulturskursleiter“ beim Asta. Vier Semester lang verkaufte er Cola auf Campus-Festivals, betreute Übungsräume für Rock-Bands, bekam einen Schlüssel fürs Audimax, „da hab ich nachts alleine Trompete gespielt. Das war schön“.

Inzwischen hat von Rosenfeld ein Problem. Seine Zeit als Weihnachtsfeiern organisierendes Faktotum beim „Campus-Kulturverein“ war ebenfalls begrenzt, seine eigene Plattenfirma ging pleite. Nun sucht er, der schon in Heavy-Metal-Bands gespielt hat und glaubt, er habe eine „gute Bühnenpräsenz“, einen Job. „Ich mache alles“, sagt er und witzelt über seine eigentlich traurige Biografie hinweg: „Nur als Urlaubsvertretung für einen Zirkusdirektor müsste ich mich wohl ein bißchen einarbeiten.“ Ob er seinen Lebensweg bereut? Er habe nicht anders gekonnt, beteuert er, wegen der Lücken. Vom vielzitierten „Mut“ zur selben hält er nichts. „Den haben schon viel zu viele.“ kaj

Raus aus der Werkstatt, rein ins Studium

Nach der Realschule hatte Ricardo Linaschke nur einen Wunsch. Der 17-Jährige aus dem sächsischen Bautzen konnte keine Lehrbücher mehr sehen und wollte endlich was Praktisches machen. Er wurde Kraftfahrzeug-Mechaniker.

Dann kam die Wende – und irgendwann die Erkenntnis, im Leben noch viel vorzuhaben. Zwar liebte er sein Handwerk, und einen Alltag ohne verrostete Karosserien und verbeulte Autotüren konnte er sich nur schwer vorstellen. Andererseits quälte ihn der Wissensdurst, und von den Mittagsgesprächen mit Kollegen fühlte er sich nicht recht ausgelastet: „Die ewigen Gespräche über Autos, Frauen und Fußball haben mich irgendwann angeödet.“

Ricardo wollte raus aus der Werkstatt und rein ins Studium, doch dazu braucht man die Hochschulreife. Also besuchte er mit 24 Jahren die Abendschule. Tagsüber im Betrieb schuften, abends Vokabeln und Matheformeln pauken: „Da bleiben Freizeit und Freundeskreis auf der Strecke“, erinnert er sich an die stressige Zeit.

Drei Jahre später hatte Ricardo das Abitur nachgemacht. Sofort hängte er seinen Job an den Nagel. Welche Fachrichtung sollte er nun studieren? Mit seinen Vorkenntnissen im Auto-Bereich entschied er sich für den Fahrzeugbau. Und weil ihm sein rockbegeisterter Lehrer immer wieder von der „Musikhauptstadt Hamburg“ vorschwärmte, bewarb er sich an der Fachhochschule Berliner Tor.

Vom Jungverdiener zum Bafög-Empfänger, von der Zweizimmer-Wohnung ins Studentenwohnheim: Heute studiert Ricardo im zweiten Semester, und wenn alles nach Plan läuft, kann er sein Studium mit 31 Jahren abschließen. „Ein bisschen ungewöhnlich ist das natürlich schon“, gibt Ricardo gerne zu. Viele seiner Altersgenossen stünden dann schließlich schon seit etlichen Jahren im Beruf, hätten „ein bis zwei Kinder und einen Bausparvertrag“. Ricardo sieht das positiv: „Mein ganzes Leben steht noch vor mir – was will ich mehr?“ sl

Vom Druck des Abschlussmachens befreit

Die Planung seiner Zukunft fiel Sebastian Prinz nicht allzu schwer: Der damals 20-jährige Abiturient aus Volksdorf wollte das Studentenleben kennen lernen – so etwas müsse man „einfach mal gemacht haben“. Und da er sich zu Schulzeiten für Historisches interessierte, schrieb er sich an der Uni Hamburg für Geschichte ein. Das Nebenfach werde sich noch ergeben, dachte er, und studierte erst mal drauflos.

Inzwischen ist Sebastian im sechsten Semester, und während die meisten seiner Kommilitonen mit dem Grundstudium fertig sind, arbeitet er tapfer auf den zweiten Proseminarschein zu. Sein Aufwand hält sich in Grenzen: „Begonnen habe ich mit 16 Wochenstunden“, erinnert er sich. Das habe sich aber bald „auf einem sehr niedrigen Niveau“ eingependelt. Sebastian befreite sich von dem Druck, „unbedingt einen Abschluss machen zu müssen“ – und studierte „gleich entspannter“.

Geldsorgen hat Sebastian keine. Er wohnt bei seinen Eltern, und dreimal die Woche arbeitet er als Packer in einem Plattenvertrieb. Er geniesst sein Leben – schließlich habe man nur eins. Da muss die Uni im Zweifelsfall hinten anstehen. Und falls das Studium doch nicht das Wahre sein sollte, möchte er auf etwas Handwerkliches umsatteln: „Dann beginne ich eben eine Lehre. Auszubildender sollte man schließlich auch mal gewesen sein.“ sl

Von der Literatur zur heilsamen Homöophatie

Als Adelheid Bergmann* mit 50 ihr Literaturstudium begann, hatte sie gewissermaßen schon ein komplettes Berufsleben hinter sich. Vier Kinder hat sie großgezogen und einen Pastorenhaushalt betreut. „Da gab es viele Gäste zu betreuen, das könnte man als Job sehen“, sagt die gelernte Krankenpflegerin. Zwei, drei Semester Theologie hatte sie in den 50er studiert. Dann kamen Mann und Kinder. Die Chance, noch einmal zu lernen, sei ihr nach „so langer Zeit fehlender Möglichkeit“ als ein schönes Hobby vorgekommen. Eine gute Gelegenheit, endlich etwas für sich zu tun.

Isoliert fühlte sie sich unter den Kommilitonen nicht. „Da gab es mehrere ältere Frauen wie mich“. Adelheid Bergmann hat nicht „stramm durchstudiert“, ließ sich Zeit. Allerdings wurde die Beschäftigung mit der Literatur des 18. Jahrhunderts und speziell mit Gottfried Herder bald zur Besessenheit. Dessen „organologisches Weltbild“, eine Geistesrichtung der Goethezeit, die die Natur nicht als Gegenüber des Menschen sieht, habe sie fasziniert. Obwohl im Studium ohne beruflichen Ehrgeiz, verfasste sie mit 60 Jahren schließlich über Herder eine Dissertation und hat jetzt einen Dr. Phil. Ihre Ärztin riet ihr: „machen sie es noch in diesem Leben“, der Professor sprach vom „Ethos des Fertigmachens“.

Sicher, unter „wirtschaftlichen Gesichtspunkten“ sei sie eine „absolute Luxuspflanze“ gewesen, räumt sie ein. Ihre Wissenserweiterung habe indirekt aber schon der Gesellschaft genutzt. Über Herders ganzheitliches Weltbild gelangte sie zur Homöophatie, machte auch hier noch eine Ausbildung und versorgt nun ihr Umfeld mit heilsamen Ratschlägen und Globuli. Das Lernen von Zahlen und Fakten falle einem im Alter schwerer, sagt sie. Zusammenhänge hingegen würde sie leichter begreifen. Das Studium habe ihren Horizont erweitert, es sei „wie ein erweitertes Feld, das man bestellen kann“. Und, dies lässt sie nicht los, „ich bringe der Gesellschaft schon etwas ein, auch wenn die es nicht merkt“. kaj

* Name geändert

Keine Zeit zum Geld ausgeben

„Ja, ich bin ein Elite-Student“ - falsche Bescheidenheit ist Abdul Baseer Qazis Sache nicht. „Schließlich habe ich schon immer mehr geleistet.“ Während er in Pakistan seinen Bachelor in Elektrotechnik machte, betrieb er nebenbei eine Druckerei. Seit Herbst studiert der 24-jährige Pakistani am privaten „Northern Institute of Technology“ (NIT) in Harburg. Damit gehört er zu den ersten 30 Teilnehmern des Elite-Studiums „Global Engineering“.

Übers Internet hat er sich beworben - wie 800 andere auch. Mit Kommilitonen der TU-Harburg studiert er nun „Informations- und Kommunikationssysteme“. Im Sommer steht ein zehnwöchiges Praktikum beim Sponsor an. 40.000 Mark pro Jahr lässt sich Siemens die Ausbildung von Qazi kosten. Darin enthalten sind Unterrichtsgebühren und Kosten für Wohnen, Exkursionen und Semes-terticket. Mit der Betreuung der NIT-Internetseiten verdient er sich zusätzlich Geld. Zeit, es auszugeben, bleibt ihm kaum: 40 Wochenstunden Studium, minimal fünf Stunden Vorbereitung, manchmal Seminare beim Sponsor. Aber das sei alles eine Frage der Planung, lächelt Qazit. Auch dass er nur 14 Tage Urlaub hat, stört ihn nicht: „Schließlich bin ich zum Lernen hier.“

Am liebsten würde er ein paar Jahre in Deutschland seine Kenntnisse vertiefen und „gut verdienen“. Es wäre ihn eine „Ehre“, sagt er, bei Siemes zu arbeiten. Später möchte er nach Pakistan.

Einige Hürden stehen ihm noch im Weg. So müssen sich Unternehmen die Einstellung von Absolventen aus Nicht-EU-Ländern genehmigen lassen. Und die Sponsorschaft verpflichtet beide Seiten zu nichts. Qazi ist dennoch zuversichtlich, was seine Karriere betrifft. „Erfolg“, sagt er, brauche er nur noch in einem anderen Bereich. „Ich bin noch ledig“. sila