Buddhismus gibt es nur nach Feierabend

Tibet, das Dach der Welt, steckt voller Kontraste. Die chinesischen Besatzer suchen das touristische Potenzial der Region auszuschöpfen, kulturelle und religiöse Freiheit bedeutet das aber nicht. Umerziehung und Modernismus lassen den Zauber Tibets brüchig werden

von ANJA KREYER

Die Versammlungshalle von Samye, dem ältesten Klosters in Tibet, ist nur vom Schein der Butterlampen spärlich erhellt. Mit stillem Lächeln blicken die Buddhas und Bodhisattvas auf die Reihen von Mönchen, die sich zum morgendlichen Gebet zusammengefunden haben. Die Luft ist erfüllt vom Rezitieren der Schriften und Mantren, ein harmonisch gemurmelter Kanon, der nur hin und wieder vom hellen Schlagen eines Gongs oder der Becken unterbrochen wird. Dann ist Ruhe. Junge Mönche eilen durch die Reihen und verteilen aus großen Blechkesseln Buttertee, dessen eindringlicher Geruch sich mit dem der Räucherstäbchen mischt. Allmählich werden die ersten Sonnenstrahlen durch die kleinen Dachfenster sichtbar, tauchen die Halle in ein dämmrig-rotes Licht und beleuchten die riesigen von den Decken hängenden Thankas, kunstvoll mit Buddhafiguren bemalte Brokatstoffe.

Für die Tibet-Touristen, die das Land aufgrund der Reglementierungen der chinesischen Regierung hauptsächlich in geführten Gruppen durchreisen, sind die Klöster, die damals der Zerstörungswut nicht vollständig zum Opfer gefallen sind, heute die Hauptattraktion. Das ist auch den Chinesen nicht entgangen, die den Wiederaufbau deshalb finanziell unterstützen. Mit der Förderung der buddhistischen Religion hat das wenig zu tun.

In Samye, das südöstlich der Hauptsadt Lhasa liegt, leben nur noch 140 Mönche, wo früher Platz für 1.000 war. Ähnlich sieht es in den Klöstern der Umgebung Lhasas aus. Drepung zum Beispiel, ehemals Heimat von 10.000 Mönchen, macht heute mit 700 Bewohnern einen verwaisten Eindruck. Zudem fehlt der Nachwuchs. Schon seit Jahren durften keine jungen Mönche mehr ins Klosterleben Drepungs aufgenommen werden. Auch an Lehrern, von denen viele während der 60er- und 70er-Jahre ins Exil gingen und denen heute die Rückkehr verweigert wird, mangelt es.

Allein mit dem Wiederaufbau von Gebäuden können geistige Inhalte nicht lebendig gehalten werden – die scheinliberale Haltung der Chinesen dient hauptsächlich einem Prestigegewinn gegenüber dem Ausland. Individualtouristen sind von der Regierung nicht erwünscht, haben sie doch die Tendenz, zu sehen und zu hören, was nicht für ihre Augen und Ohren bestimmt ist. Deshalb ist offiziell vieles verboten, inoffiziell aber fast alles machbar – bei entsprechender Bezahlung der zuständigen Kontrollposten.

Die Haltung der Regierung wird für den Touristen schon auf dem dreistündigen Bustransfer vom Flughafen nach Lhasa deutlich. Der komfortable Bus hält auf halber Strecke vor einer in Stein gemeißelten und offensichtlich frisch bemalten Statue des Shakyamuni-Buddha. Unter Anleitung des mechanistisch lächelnden chinesischen Gruppenführers heißt es: „Alles aussteigen, bitte fotografieren Sie jetzt dieses Zeugnis tibetischer Kultur.“

Lhasa, die heilige Stadt, bietet bei der Einfahrt einen ernüchternden Anblick: Endlose Reihen chinesischer Billigbauten beherbergen Kaufhäuser, Modegeschäfte, Karaoke-Bars und andere Vertreter der modernen Konsumwelt. Dank der in den 80er-Jahren begonnenen Abrissarbeiten und dem gleichzeitig einsetzenden Bauboom bestehen heute nur noch zwei Prozent der Wohnfläche Lhasas aus alten tibetischen Gebäuden. Über alledem thront der imposante Potala-Palast, ehemaliger Wohnsitz des Dalai Lama, heute schweigend und scheinbar auf Wiederbelebung wartend daliegendes Museum.

Im Innern ist jeder Raum ausgestattet mit Überwachungskameras, und die Erklärungstafeln in den Dalai-Lama-Wohnräumen und an den Statuen in den zahlreichen Hallen wollen weismachen, dass all dies Teil einer längst vergangenen Kultur sei. Man fragt sich, wer die vielen Männer in den blauen Arbeitskitteln sind, bis man erfährt, dass es sich um Mönche handelt, die ihre roten Kutten abgelegt haben, um ihrer Aufgabe, die Räume sauber zu halten und Touristen herumzuführen, nachgehen zu können. Für ihr buddhistisches Studium bleibt ihnen nur nach „Feierabend“ Zeit. „Ich mag den 14. Dalai Lama sehr“, traut sich einer zu sagen, nachdem er sich sorgfältig vergewissert hat, dass niemand anders zuhört.

Seit seiner Flucht ins nordindische Exil nach Dharamsala 1959 hat der damals 15-jährige Dalai Lama diese Räume nicht betreten. Lange Zeit lag es im Interesse der chinesischen Regierung, ihn zur Rückkehr und somit zur „Zusammenarbeit“ zu bewegen. Heute sind selbst seine Fotos im ganzen Land verboten – seiner Beliebtheit tut das keinen Abbruch. Viele Tibeter bewahren hinter irgendeiner verschlossenen Schranktür kleine Bilder mit Abbildungen ihres geistigen und weltlichen Oberhauptes auf, die sie mit einer Mischung aus Stolz und Ängstlichkeit, in jedem Fall aber mit leuchtenden Augen vorzeigen. Der Umerziehungsunterricht, der auch heute noch in vielen Klöstern stattfindet und die gezwungenermaßen teilnehmenden „SchülerInnen“ von den positiven Folgen der „Heimkehr Tibets ins chinesische Mutterland“ (Mao 1949) überzeugen soll, hat scheinbar längst nicht überall gefruchtet – obwohl es natürlich auch unter den Tibetern viele Opportunisten gibt.

Wer in Lhasa einen Hauch vom „alten“ Tibet schnuppern will, hält sich in der Nähe des Jokhang-Tempels auf. Auf dem so genannten Barkhor, dem traditionell im Uhrzeigersinn bewanderten Pilgerweg um den Jokhang, begegnet einem ein buntes Gemisch religiöser und weltlicher Aktivitäten: Händler und vor allem Händlerinnen verkaufen Stoffe, Gebetsschals, -fahnen und -räder, Thankas, Schmuck und Steine, Statuen, Plastikwecker und chinesische Kitschartikel und sind dabei nicht zimperlich. Hat man einmal auch nur distanziertes Interesse bekundet, ist es nahezu unmöglich, den Stand ohne erworbene Waren wieder zu verlassen. Mönche und Nonnen sitzen bettelnd am Weg, um durch das Rezitieren von Schriften die finanzielle Versorgung der Klöster zu sichern. Räucherwerk an allen Ecken, schwingen oder Gebetsketten abzählen, andere, die sich vor dem Tempeleingang in Ganzkörperverbeugungen niederwerfen ... und wen immer man anguckt, der antwortet mit einem strahlenden und warmen Lächeln.

Die Leute hier wissen, dass es in Nepal und Indien Orte gibt, wo sie ihre Kultur und ihre Religion freier leben könnten als in ihrer Heimat. Für viele ist die Aussicht, einmal im Leben dem Dalai Lama zu begegnen, Grund genug, Tibet wenigstens vorübergehend zu verlassen. Den meisten bleibt dafür nur der illegale Weg der wochenlangen und lebensgefährlichen Wanderung über den Himalaja und der Versuch, ungesehen an den nepalesisch-tibetischen Grenzposten vorbeizukommen. Sie gehen mit dem, was sie am Körper tragen, und ohne sich zu verabschieden, um ihre Familien nicht zu gefährden.

Wer später zurückkehrt, landet zunächst nicht selten im Gefängnis, hat viele Fragen zu beantworten und hat sich als Mönch ebenso wie für bestimmte Berufe disqualifiziert. Wer nicht zurückkehrt, muss sich damit abfinden, der fortschreitenden Sinisierung Vorschub zu leisten und das Land den zugezogenen Han-Chinesen und opportunistischen Tibetern zu überlassen. Der muss von außen mit ansehen, wie in den staatlichen Schulen eine neue Generation von kleinen tibetischen Chinesen heranwächst, für die der Unterricht in chinesischer Sprache abgehalten wird und die bei Feierlichkeiten der chinesischen Flagge salutieren und die chinesische Nationalhymne singen.

Erst nachdem man Tibet in einer rasanten zweitägigen Abfahrt auf dem so genannten „Friendship Highway“ in Richtung Katmandu wieder verlassen und dabei eine Reihe der mächtigen 8.000er des Himalaja passiert hat, versteht man, warum diese Region den Beinamen „Dach der Welt“ trägt. Schon kurz nach Passieren der nepalesischen Grenze scheint Tibet in unerreichbare Ferne gerückt, ein verborgenes Land hoch über den Wolken. Der Zauber Tibets, das nie das friedliche Paradies war, als das es gerne beschrieben wird, ist brüchig geworden, doch gebrochen ist er nicht. Noch nicht.