nebensachen aus istanbul
: Die Probleme der ganz einfachen Millionäre

EIN VOLK OHNE WECHSELGELD

Bekanntlich klagen reiche Leute mehr als Arme. Lamentierende Millionäre sind sozusagen der Standard. Entweder haben sie Ärger mit dem Personal, der Swimming Pool ist mal wieder nicht ordentlich gesäubert, der Leibwächter hat verschlafen, oder sie sind mal wieder betrogen worden. Das ist auch in der Türkei nicht anders. Der einzige Unterschied zwischen Istanbul und Berlin ist: Leute mit diesen Sorgen sind hier Milliardäre (oder sie rechnen gleich in Devisen).

Die Probleme der Millionäre sind in der Türkei Jedermann-Probleme. Umgerechnet ist eine Million Türkische Lira keine vier Mark mehr wert. Nach zwanzig Jahren ununterbrochen hoher Inflationsrate wirft man in jedem Kramladen mit den Millionen nur so um sich – sollte man glauben. Aber hier beginnen die Probleme der gewöhnlichen Millionäre in der Türkei.

Schon bisher war es nicht so einfach, seine Millionen an den Mann, respektive die Frau, zu bringen. Der morgendliche Gang zum Zeitungskiosk konnte zuweilen zu einem ausgedehnten Spaziergang werden, weil erst der dritte oder vierte Händler sich in der Lage sah, einen Schein zu wechseln. Um das Problem mit dem vielen Geld im Portmonee in den Griff zu bekommen, hat die staatliche Münze vor einigen Wochen einen neuen Schein auf den Markt gebracht. Der Neue, jetzt der größte Schein, ist rot und zählt für 10 Millionen Lira, also rund 37 Mark. Was sich wie eine längst überfällige Innovation auf dem Geldmarkt anhört, ist angesichts eines Volkes ohne Wechselgeld eine mittlere Alltagskatastrophe. Jeder Schritt will genau geplant sein. Als deutscher Gastarbeiter bezieht man seinen Lebensunterhalt aus dem Geldautomaten. Der spuckt, seit es die neuen Scheine gibt, nur noch 10 Millionen Lira Scheine aus. Doch dafür kann man sich praktisch nichts kaufen.

Nachdem sämtliche Kioskbesitzer bereits mit einem müden Grinsen auf den roten Schein geschaut haben, zieht auch der Bäcker bedauernd die Schultern hoch: „Wir können nicht wechseln“. Ins Dolmuș, dem Sammeltaxi, braucht man erst gar nicht einzusteigen, und auch am Ticketschalter der Fähre erregt man den geballten Unwillen der Leute, die hinter einem in der Schlange stehen. Was tun?

Bei einer Bank um Kleingeld anzustehen ist ein enorm zeitraubendes Geschäft, deshalb tut gute Planung Not. Vom Bankautomaten führt der erste Weg zu Migros. Die türkische Supermarktkette hat immer Wechselgeld. Ein paar Tomaten kaufen und der erste 10-Millionen-Schein ist geknackt. Als goldene Regel gilt: Immer und überall zuerst versuchen zu wechseln, bevor man sein eigenes, wertvolles Kleingeld herausrückt. Erst wenn ein Einkauf definitiv am mangelnden Wechselgeld zu scheitern droht, darf man selbst sein Kleingeld benutzen. Nach langen Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds hat die türkische Regierung zugesagt, in diesem Jahr die Inflation von 65 auf 25 Prozent zu drücken. Gespannt warten die Leute nun, ob der Zehn-Millionen-Schein jetzt wirklich der Größte bleibt, oder doch noch der 20-Mille-Schein kommt. Allein die Vorstellung welcher Stress damit verbunden wäre führt dazu, dem Anti-Inflations-Programm die Daumen zu drücken.

Doch die Zeichen stehen schlecht. Im Januar wurde die Marge weit verfehlt und auch im Februar blieb sie deutlich unter den Erwartungen. Die Zahlen für März sind noch nicht veröffentlicht. JÜRGEN GOTTSCHLICH