Der Hofnarr

von KARIN NINK

Der Mann steht am Ende seiner politischen Karriere und hat einen Terminkalender so voll wie in seinen besten Ministerzeiten: Montag und Dienstag Partei- und Parlamentsgremien in Berlin, morgens und abends Fernsehauftritte. Mittwoch Landtagswahlkampf in Dortmund für Jürgen Rüttgers, der seinen Platz im Parteivorstand haben will. Donnerstag tagsüber Berlin, abends Wahlkampf für seinen Landesverband Nordrhein-Westfalen, diesmal in Leverkusen und Hückeswagen. Freitag morgen wieder in Berlin, und abends via Düsseldorf nach Leipzig.

Eigentlich müsste es genug sein. Der Mann ist 64. Sechzehn Jahre Arbeits- und Sozialminister. Diverse Reformen des Gesundheits- und Rentensystems. Die Einführung der Pflegeversicherung. Der einzige Minister, den Kohl seine gesamte Regierungszeit über im Kabinett duldete. Und: Er war dreißig Jahre im Vorstand der CDU. Das ist heute vorbei. Norbert Blüm kandidiert nicht mehr für den stellvertretenden Parteivorsitz. Macht Platz für einen Jüngeren in der CDU. Mehr noch. Für eine neue Generation. „Wenn das Stück der CDU jetzt ,Neuanfang‘ heißt, dann ist der Zeitpunkt gegeben“, sagt er, nicht ohne die süffisante Frage zu stellen, ob es eigentlich auch einen „Alt-Anfang“ gebe. Ganz frei von Trauer ist die Süffisanz nicht.

Blüm, der eigenwillige Getreue

Norbert Blüm sitzt in seinem Büro in der Berliner Mauerstraße. Links von der Tür hängt ein Holzkreuz, ein Stück weiter eine Schwarzweißaufnahme des führenden Vertreters der modernen katholischen Soziallehre, Oskar von Nell-Breuning. Wieder ein Stück weiter, gleich neben dem Schreibtisch, ein Bild von der Kfz-Werkstatt seines Vaters und bunte Fotos von den Enkelkindern. Also alles, was das Leben und den Menschen entscheidend geprägt hat: Familie und Religion.

„Ich habe mir immer geschworen, den Zeitpunkt, an dem ich eine Funktion abgebe, selbst zu bestimmen“, sagt Blüm und will das Gefühl vermitteln, genau das jetzt zu tun. Dabei ist sein Ausscheiden aus der CDU-Spitze nicht zu trennen vom Finanzskandal der Partei. Jene Christdemokraten, die zur Ära Kohl gehören, sind endgültig out. Pech für Blüm.

Dabei gab es nie den geringsten Hinweis, dass er etwas mit der CDU-Finanzaffäre zu tun hatte. Aber er war eben dienstältester Minister des Einheitskanzlers mit den schwarzen Kassen. So sehr Blüm noch immer die Enthüllungen entsetzen, so hart trifft es ihn, wenn durch den Skandal das Bild einer CDU-Spitze entsteht, die nur aus willigen Erfüllungsgehilfen des Dicken zu bestehen schien: „Wir waren doch net alles Duckmäuser.“ Blüm wird erst rot und fällt dann in seinen südhessischen Akzent. Laut erinnert er daran, dass er sich mit dem Alten so manche Auseinandersetzung geleistet habe und auch leisten konnte. Vielleicht, weil Kohl an seinem absolutistisch geführten Hof auch einen Hofnarren brauchte? Diese Frage würde Norbert Blüm sich von anderen verbieten. Vielleicht aber wird er sie sich selbst stellen, hat es bereits getan.

Und vielleicht wird er sich fragen, warum selbst er nie nachgehakt hat, woher bei knappen Kassen immer wieder das Geld kam, zum Beispiel für Kohls 800.000 Mark teure Briefaktion 1987. Blüm sagt etwas von der „Mitverantwortung von uns allen“ und bemüht sich, das Desinteresse zu erklären: „Da gab es so eine Arbeitsteilung im Kopf. Die einen machen das, die anderen was anderes. Bei den Themen, die mich angingen, bin ich immer instinktiv wach geworden, bei anderen habe ich vor mich hingedöst.“

Blüm hat noch lange zu Kohl gehalten, als dieser schon längst öffentlich eingeräumt hatte, in den Jahren 1993 bis 1998 illegale Spenden angenommen zu haben. „Jeder macht mal einen Fehler“, hat er damals gesagt, „deswegen lässt man einen Freund doch nicht im Stich.“ Blüm war das ernst. Er hält etwas von Werten wie Freundschaft, Treue und Verlässlichkeit. Der Mann ist konservativ.

Als aber im Januar die angeblichen jüdischen Vermächtnisse für die Hessen-CDU sich als Schwarzgeld von ausländischen Konten entpuppten, war es mit der Loyalität vorbei. Nach dieser Nachricht hat Norbert Blüm nachts nicht geschlafen. Hat von seinem „Damaskus-Erlebnis“ gesprochen. Hat sich in der Lobby des Bundestages ereifert. Hat Kohl aufgefordert, die Spender zu nennen. Vergebens.

„Der Erfolg hat viele Versuchungen“, sinniert er, wenn er nach einer Erklärung für Kohls Verhalten gefragt wird. Der promovierte Geisteswissenschaftler greift gerne auf Zitate, Sprichwörter und Lebensweisheiten zurück. „Man muss die Fassungslosigkeit auch zugeben und kann sich nicht immer wortreich verstecken“, sagt Norbert Blüm und versteckt sich wortreich. Dann nuckelt er noch ein bisschen intensiver an seiner Pfeife („Wenn ich rauche, bin ich ruhiger“). Als das auch nichts nützt: „Se kriege mich doch nicht.“ Was geht auch sein Gemütszustand in Bezug auf die Spendenaffäre und die Überheblichkeit Kohls andere an?

Jüngst ist der einstige Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse mit seinem Parteifreund Heiner Geißler durch den Sudan gereist. Unter der glühenden Sonne wanderten die zwei älteren Herrn durch die Nuba-Berge im Süden des Landes, um ein Krankenhaus der deutschen Hilfsorganisation Cap Anamur zu besuchen. Kaum waren sie wieder in Berlin, forderte Blüm mit jugendlicher Hemmungslosigkeit, die Bundesregierung solle eine aktivere Rolle bei der Lösung des Bürgerkriegs im Sudan einnehmen. Wenn es um Menschenrechte und soziale Fragen geht, setzt sich der altgediente Berufspolitiker regelmäßig über Konventionen und falsch verstandene Rücksichtnahmen hinweg. Da haben ihn auch die Jahrzehnte in Bonn nicht ruhiger werden lassen. Den Menschenrechten und der Entwicklungspolitik will er sich künftig noch intensiver widmen. Als einfacher Abgeordneter. Da mag es für die Jüngeren in der CDU schon fast als Drohung klingen, wenn Blüm sagt: „30 Jahre Mannschaftsspiel ist lang genug. Nun pfeife ich mein eigenes Liedchen.“

Doch auch beim Mannschaftsspiel hat Blüm sich nicht immer ins Team gefügt. Als er sich im Bundestag über das chilenische Militärregime von Pinochet ereifern wollte und seine eigene Fraktion ihm dafür keine Redezeit einräumte, bat er die Grünen um Unterstützung. Die schenkten ihm etwas von ihren kostbaren Minuten und Blüm sagte, was zu sagen war. Und bei der Abstimmung über das Einbürgerungsgesetz der rot-grünen Regierung stimmte er als einer der ganz wenigen Unionsabgeordneten nicht mit seiner eigenen Fraktion.

Diese eigenwillige Unabhängigkeit wurde Blüm von den Eltern vorgelebt. Von der „streng katholischen“ Mutter und dem „lasch evangelischen“ Vater. Eine Konstellation, die heute keinen mehr irritiert, in den Kindertagen des Norbert Blüm muss dieser religiöse Mix jedoch noch so etwas wie die Vorhölle gewesen sein. Seine Eltern scheint das nicht gejuckt zu haben. „Mein Vater setzte mich als Kind auf seine Fahrradstange und radelte mich zur katholischen Kirche, damit ich dort in der Frühandacht messdiente“, sagt Blüm.

Norbert Blüm erzählt. Und wenn er am Erzählen ist, fallen ihm immer neue Geschichten ein. Etwa die, wie er dem erzkonservativen Kölner Erzbischof Joachim Kardinal Meissner die Leviten gelesen hat. Ihn öffentlich gefragt hat, wer denn mehr in der Nachfolge Jesus gestanden habe: Der kommunistische Onkel Blüms, der ins KZ kam, weil er russische Zwangsarbeiterinnen im Werk mit Essen versorgt hatte? Oder dessen Abteilungsleiter, der Mitglied des katholischen Kirchenvorstandes war und den Onkel an die Nazis verriet? Blüms Augen, die bei den Fragen zur CDU-Spendenaffäre häufig umherschweiften, flunkern nun durch die ovale Intellektuellenbrille. Solche Affronts bereiten ihm noch Jahre später eine diebische Freude.

Als Herz-Jesu -Sozialist hat ihn Franz-Josef Strauss einst tituliert. Stört ihn das? „Herz Jesu ist doch was Schönes“, sagt er grinsend, „und Sozialist ist im Zusammenhang mit Jesus erträglich.“ Mit diesem Etikett kann er also gut leben. Besser jedenfalls, als wenn ihm irgendwelche „intellektuellen Rotzlöffel“ in der Presse „Vorgestrigkeit“ in der Rentenpolitik vorwerfen und „so tun als wäre ich ein sturer und verkalkter Blödkopf“. Da bleibt kein Raum mehr für Kalauer. „Ohne meine Reformen lägen die Beitragssätze in der Rentenkasse zwölf bis 18 Prozent höher“, wettert er. „Gab es vor mir noch jemand, der soviel Veränderungen zustande gebracht hat?“ Die Antwort liefert er unausgesprochen mit.

Blüm, der wortreiche Schweiger

Hat sich Politik wirklich gelohnt, wenn nach sechzehn Ministerjahren einem jegliche Reformleistung abgesprochen wird? Da wird Norbert Blüm, der Wortreiche, schweigsam – bis er sich wieder daran erinnert, wieviel Spaß es ihm immer gemacht hat, dieses Leben außerhalb der „strengen Regeln der Erwerbsarbeit“. Und es gibt ja auch andere. Die – wie der alte Sozialdemokrat – sagen: „Ich habe es manches Mal bewundert, wie er parteiinterne Kritiker abgewehrt und Schlimmeres verhindert hat.“

Und: Norbert Blüm war Politik nie alles. Nebenbei hat er immer wieder Bücher geschrieben: Märchen, Reiseskizzen, kleine Geschichten aus dem Leben oder Reflexionen über die Politik im allgemeinen und die CDU im besonderen. Wäre es nun, nach dem Rückzug aus der Spitzenposition nicht an der Zeit für eine Biographie? Die Antwort kommt spontan: „Auf keinen Fall. Die werde ich nie schreiben. Die, die ich gelesen habe, sind doch alles Lebenslügen.“ Aber schummeln wir nicht alle ein bisschen?