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Nach Lothar Bisky erklärt Gregor Gysi Rückzug aus der PDS-Spitze. Anlauf zur programmatischen Erneuerung endet mit Niederlage der Reformer

aus MünsterCHRISTIAN FÜLLER

Gregor Gysi ist nicht besonders groß. Als er gestern das Podium der Münsterlandhalle erklomm, musste er sich hinter dem Rednerpult auf ein kleines Podest stellen, um sehen und gesehen werden zu können. Dann begann er die Rede, die seine letzte an die Partei sein sollte.

Als Gysi nach einer Stunde von seinem kleinen Sockel abtrat, mit dem ganz und gar unsozialistischen Wunsch nach Gesundheit und persönlichem Wohlergehen für seine Freundinnen und Freunde in der Partei auf den Lippen, schossen der gesamten Führungsriege in der ersten Reihe die Tränen in die Augen: Christa Luft, Rosemarie Hein, Gabi Zimmer, Sylvia-Yvonne Kaufmann sowieso. Sogar Lothar Bisky schniefte.

Gregor Gysi hielt sich gar nicht lange mit dem umstrittenen friedenspolitischen Beschluss von Münster auf. Der hat ihm zwar nicht gepasst, aber zu seinem Rückzug kann er ihn nicht bewogen haben. Für den profilierten Anwalt, der die PDS 1990 als Organisation rettete, hat der Entschluss vorher festgestanden. Gysi wird kein bedeutendes politisches Amt innerhalb der PDS mehr wahrnehmen. Den Vorsitz in der Bundestagsfraktion, den er elf Jahre innehat, wird er im Oktober abgeben, um ein neues Bundestagsmandat wird er sich nicht mehr bewerben.

In einer tour d’horizon streifte er in seiner Abschiedsrede alle Felder, die der PDS zehn Jahre nach ihrer Konstituierung Probleme bereiten: das Verhältnis zur SPD, die Eigentumsfrage, die neue Weltordnung, die sozialistische Phraseologie und, das war ihm offenbar das Wichtigste, die Schwierigkeiten, die PDS als Teil der Bundesrepublik Deutschland zu begreifen: „Wir müssen Teil der Gesellschaft werden, wenn wir sie verändern wollen“, sagte Gysi – und er bekam mehr Applaus dafür als irgendjemand vor ihm auf dem Parteitag.

Allein die Tatsache, dass die PDS ohne jeden Zwischenfall einen Parteitag im schwarzen Münsterland abhalten kann, schätzt der scheidende wichtigste Mann der Partei als Ausdruck einer lang dauernden Normalisierung hoch ein: „Hätten wir das vor zehn Jahren versucht, die Menschen hätten uns hier hinausgetrieben.“

Gysi machte die deutsche Linke selbst dafür mitverantwortlich, dass die Gesellschaft sie nie wirklich akzeptiert habe. Dies liege am Stil und an der Sprache der Linken, wandte er sich an die dogmatisch auftretenden PDSler im Saal, die ihn und Parteichef Bisky teilweise mit polemischen Attacken überzogen hatten. Es sei falsch, die Menschen und vor allem anders denkende Menschen „immer abstoßen, wegdrängen und beleidigen zu wollen – gewinnen müssen wir sie. Das ist der Unterschied.“

In Münster begann die PDS ihr Grundsatzprogramm zu überarbeiten. Gysi gab seiner Partei unmissverständliche Hinweise für ihre programmatische Entwicklung. Ziel von ihm und anderen Realpolitikern ist dabei, eine demokratische sozialistische Partei zu etablieren, die auch in Westdeutschland dauerhaft Wahlerfolge erzielt.

Orthodoxe Sozialisten wie der Sprecher der Kommunistischen Plattform, Uwe-Jens Heuer, sehen die Gefahr, dass die PDS ihre antikapitalistischen Wurzeln kappt. Gysi hält dagegen: „Wir dürfen nicht auf die alten Antworten zurückfallen, nur weil uns neue nicht einfallen.“

Die Orthodoxen führten „das Scheitern des Sozialismus auf subjektive Fehler von irgendwelchen Generalsekretären“ zurück. Das sei falsch. Der in der DDR real praktizierte Sozialismus sei strukturell keine Alternative zur Marktwirtschaft gewesen: Der DDR-Sozialismus „war weder demokratisch noch emanzipatorisch noch wirtschaftlich überlegen.“ Das müsse auch die PDS deutlich sagen.

Auch mit Bemerkungen zur Eigentumsfrage griff Gysi in die Programmdebatte der PDS ein, ebenfalls betont DDR-kritisch. „Es steht nirgendwo geschrieben, dass Eigentum nur deswegen ökologischer und sozialer wirkt, nur weil es sich in staatlicher Hand befindet.“

Gysi erhielt dafür eine Menge Beifall. Aber es wird für die PDS eine Zerreißprobe werden, ihr Verhältnis zum Eigentum neu zu definieren.

Gysis Überzeugungskraft wird den unorthodoxen Sozialisten bei den künftigen Programmdebatten der Partei fehlen. Sein und Lothar Biskys angekündigter Rückzug legen das personelle Problem der PDS offen. Im Herbst soll über die Besetzung beider frei werdender Posten befunden sein. Und es gibt wenige Namen, die genannt werden, und keine klaren Favoriten.

Aber das Parteileben geht weiter seinen Gang. Gregor Gysi war mit einer fulminanten, möglicherweise historischen Rede abgetreten. Und der Parteitag hatte nichts Besseres zu tun, als sich gleich danach in eine Geschäftsordnungsdebatte zu begeben.