Nirgendwo in Paris

Olivier Tambosi neuinszeniert an der Staatsoper Puccinis „La Bohème“ ohne Zuckerguss  ■ Von Dagmar Penzlin

Das schmerzt natürlich: statt sich ungestört und unreflektiert im bitter-süßem Sentiment einer doch so bekannten Oper suhlen zu können, plötzlich eine erschreckend heutige Geschichte erzählt zu bekommen. Mutig hat Regisseur Olivier Tambosi den Zuckerguss von Giacomo Puccinis La Bohème gekratzt. Seine Neuinszenierung an der Staatsoper ist ein hartes, doch nahrhaftes Brot. Wer am sonntäglichen Premierenabend nicht kauen wollte, musste wohl buhen.

Tambosi und seine Ausstatter Frank Philipp Schlößmann (Bühnenbild) und Klaus Bruns (Kostüme) versuchen vorsichtig, aber doch ohne Kompromisse, Puccinis Oper aus dem Paris des 19. Jahrhunderts in unsere Zeit zu holen. Die Bohemiens kleiden sich ganz postexistenzialistisch-trendy in Schwarz, und die Künstlermansarde wird zum unbehaglich dunklen Nirgendwo hoch über den Dächern von Paris. Der Mond scheint hier zum Greifen nah: So groß und rund er die Szenerie beherrscht, so leichenblass und unbarmherzig taucht er die Vorgänge in fahles Licht.

Der öffentliche Raum gestaltet sich dagegen als greller Ort des Konsums. Im Quartier Latin des zweiten Bildes stapeln sich Unmengen großer, quietschbunter Geschenkpakete ohne Inhalt. Stumpf hocken die Menschen zwischen den Gütern, bevor sie sich mechanisch zuckend zur Militärkapelle bewegen, als sei es Techno.

So wie Tambosi das übliche fröhliche Treiben in der Quartier-Latin-Szene hinterfragt, so kritisch beleuchtet er die zentrale Liebesgeschichte zwischen Mimi und Rodolfo. Der Regisseur zeigt zwei Menschen, die unbedingt glauben wollen, im anderen die große Liebe gefunden zu haben. Während Mimi Rodolfo zum schicksalsgesandten Alleinseligmacher idealisiert, sieht der Dichter in der Blumenstickerin vor allem ihre Qualitäten als Muse. Die erste Begegnung zwischen den beiden in der Mansarde tändelt in der Neuinszenierung zwischen oberflächlichen Balzritualen und existenzieller Sehnsucht; hier finden weniger zwei Seelen zueinander als vielmehr zwei Projektionsflächen.

Statt das Paar Arm in Arm sich, unisono duettierend, zur dumpfen Glückseligkeit aufschwingen zu lassen, sorgt Tambosi mit seiner Personenführung dafür, dass stets grundsätzliche Distanz zwischen Mimi und Rodolfo bewahrt bleibt. Erst als der Tod der Schwindsüchtigen unabwendbar zu sein droht, sind Momente echter Nähe möglich, so dass die beiden sich füreinander öffnen. Doch kaum dass Mimi gestorben ist, verdrückt sich die Künstlerclique erschreckt. Im Grunde allesamt große Jungs, die sich vor der Realität, vor echten Gefühlen und deren Konsequenzen fürchten.

Als Sinnbild für die Illusionen von Liebe und Glück stehen in der neuen Hamburger „Bohème“ gasgefüllte Herzluftballons. Beim Kennenlernen Mimis hantiert vor allem Rodolfo mit dem rotglitzernden Ballon, drängt ihn der Stickerin auf oder klammert sich mit kindlichem Greinen selbst daran fest. Im letzten Bild schließlich zerschneiden der Dichter und sein Künstlerfreund Marcello ernüchtert das hohle Herz. Vielleicht gerät das alles etwas plakativ, aber es unterstützt durchaus die desillusionierende Lesart von Puccinis Oper.

Das Sängerensemble trägt das innovative Konzept der Neuinszenierung. Hugh Smiths Rodolfo ist ein Egozentriker aus Not, fast schon autistisch. Am liebsten träumt er vor sich hin und starrt ins Weite. Und wenn er unsicher ist, bohrt er seine Hände tief in die Jac-kentaschen. Klang Smiths warm timbrierter Tenor am Premierenabend zunächst in den oberen Lagen noch eng, gewann zunehmend an beeindruckendem Format. Ebenso gelangte Brigitte Hahn erst im dritten und vierten Bild zu jener traumwandlerischen Hingabe, die ihre Mimi so besonders und expressiv macht. Lothar Koenigs am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters begleitete die Sänger insgesamt einfühlsam, auch wenn er manchmal drohte, die Stimmen zuzudecken. Vor allem im dritten und vierten Bild zelebrierte der Dirigent in langsamen Tempi den puccinesken Melos, manchmal hart an der Grenze zum Süßlichen.

Trotz glühender Kantilenen erlaubt diese Inszenierung es dem Zuschauer nicht, den Kopf ab- und auf Autopilot umzuschalten. Wer dies möchte, schließe die Augen – oder bleibe zu Hause und höre CD.

noch am 12., 15., 18., 20., 22., 24., 28. April, 10. und 14. Mai, 19.30 Uhr, Staatsoper