Die Kunst der Nieten

■ Als Professor an der Bremer Hochschule für Künste wurde der Zeichner Wolfgang Schmitz gerade erst pensioniert. Jetzt hat er viel mehr Zeit. Zum Beispiel dafür, die Schwebebahn in seiner Heimatstadt Wuppertal zu retten

ZeichnerInnen machen die merkwürdigsten Erfahrungen. „Ich habe mal in der Normandie gearbeitet“, sagt der gerade erst pensionierte Professor der Bremer Hochschule für Künste, Wolfgang Schmitz. „Da trug ein Mann schwere Zementsäcke auf eine Baustelle. Erst später habe ich gemerkt, dass er einen Riesenumweg macht, nur um mich nicht zu stören.“ Einen „Atlas der Toleranz gegenüber absonderlichen Tätigkeiten“ will Wolfgang Schmitz seither erstellen. Doch er kommt einfach nicht dazu. Wuppertal hält ihn davon ab. Genauer gesagt: die Schwebebahn. Und noch genauer gesagt: der Teilbereich namens Landstrecke, dessen genietete Konstruktion aus der vorletzten Jahrhundertwende durch gegossene Pfeiler ersetzt werden soll. Man könnte sagen: Der seit 1973 unter anderem in Wuppertal – ungefähr an Pfeiler 13 der Hochbahn – lebende Wolfgang Schmitz arbeitet an einem „Atlas der Intoleranz gegenüber genieteten Eisenträgern“. Er selbst jedoch nennt sein umfangreiches, mit Lithokreide, Bleistift und Feder angefertigtes Werk anders: „Die sieben Säulen der Weisheit“.

Wolfgang Schmitz ist so ein Spurenleser, -sucher und -finder unter den ZeichnerInnen. Während er zeichnet und dabei gleich die ganze Stadt zu seinem Atelier erklärt, wird Schmitz fündig und entdeckt die seltsamsten Zusammenhänge. Auf einen Pfeiler hat jemand ein Graffito mit einem blitzförmigen S gesprüht. Und derweil Schmitz Niete für Niete zeichnet, fällt ihm ein: Blitz ist im Englischen gleichbedeutend mit Luftangriff. Und jetzt, wo die Hochbahn abgerissen wird, bewahrheitet sich das vom Sprayer nur unbewusst benutzte Zeichen.

Ja, ja. Klingt alles ziemlich nach Walter Benjamin. An einem Passagenwerk über das Passagenwerk dieses Kreuz- und Querdenkers der Moderne hat Schmitz Anfang der 90er Jahre auch mitgewirkt. Das war seine letzte größere Ausstellung in Bremen. Nach einer langen Pause also steht ihm jetzt wieder die Städtische Galerie offen. Neben Benjamin gehörten noch andere Straßen- und Passagenwerke zu seinen Themen. Aber Wuppertal? Ich meine: die Schwebebahn? „Wissen Sie, ich bin schon so lange in Wuppertal, und ich wäre nie darauf gekommen, die Schwebebahn zu zeichnen.“ Sagt er. Und ist doch drauf gekommen.

Wolfgang Schmitz hat ein Faible für das, was von der Epoche um 1900 an Industrie- und anderer Architektur übrig geblieben ist. Deshalb wirken seine Pfeilerzeichnungen oft so eiffelturmig und seine Wuppertalblicke oft so parisig. Außerdem hat Schmitz ein Faible für Wortbröckchen, Begriffshäppchen und Schriftzugstückchen wie MER von Barmer oder Lilly vom Wege, das Bekleidungsgeschäft mit dem schönen Namen. Schließlich hat er auch ein Faible für Informel, die Kunstströmung der Mitte des 20. Jahrhunderts. Aber das ist schon ein Gebrochenes. Seine „Sieben Säulen der Weisheit“ stehen irgendwo zwischen dem Dokumentarischen und der technischen Zeichnung auf der einen Seite und der von Regeln völlig oder nahezu oder immerhin ein bisschen befreiten Strömung der Malerei namens Informel auf der anderen Seite. Das Dokumentarische hat aber ein Übergewicht.

Schmitz' Zeichnungen haben trotz ihrer Genauigkeit immer etwas Schemenhaftes. Figuren im Seitenprofil, stehengelassene Worte oder Zitatfetzen, nicht ganz ausgefüllte Flächen oder nicht weitergeführte Vorskizzen-Reste betonen die Vergänglichkeit allen Zeichnens und allen Schwebebahnen-Baus. Eine solche Bildsprache und auch die von Schmitz praktizierte Verwendung vorbedruckten Papiers ist durchaus üblich. Und doch ist da bei Schmitz mehr. Wenn Schmitz seine, wie er sagt, „ana-chronistische Tätigkeit“ ausübt und „sich in etwas vertieft und zugleich doch an allem teilnimmt“, passiert etwas: Er erwirbt sich genaue Kenntnisse des Ortes, hat plötzlich eine Kompetenz, die all jene StadtplanerInnen und ArchitektInnen bei ihren kurzen Ortsbegehungen nicht gewinnen können. Schmitz rettet wenigstens das Bild von der Treppe, auf der die Kinder gespielt haben, in die Zeit nach dem Abriss herüber. Und es ist dabei fast egal, ob diese Treppe in Wuppertal-Elberfeld, Hamburg-Blankenese oder Bremen-Neustadt gestanden hat.

Für die umfangreiche Ausstellung seines Pfeiler-Werkes in der Städtischen Galerie hat Wolfgang Schmitz in Nikola Blaskovic einen geistesverwandten Partner gefunden. Der 1962 geborene Bremer Kunst-Förderpreisträger hat sich bei seinen drei Installationen zwar kilometerweit von der Zeichnung entfernt. Doch auch er sagt: „Kunst hat immer etwas mit Archivieren zu tun und ist eine Art Retten.“ Der Titel seiner Klein-Ausstellung: „Register“.

Schön unperfekt, das heißt durchschaubar einfach konstruiert, setzt Blaskovic der CD – genauer: der CD-ROM-Enzyklopädie – ein temporäres Denkmal. Sechs mit Wortlisten bedruckte Bistrotisch-große Scheiben rotieren da. Auf einer Scheibe sind aberhunderte von Vornamen gelistet, so dass dieses Werk ganz nebenbei für werdende Eltern auf Namenssuche einen Gebrauchswert hat. An Arbeit zwei – einer Pyramide aus Tischböcken – streifen wir nur am Rande vorbei und schenken dafür der dritten viel Aufmerksamkeit. In Intervallschaltung lässt Blaskovic Buchtitel mit Phantasienamen aus Phantasieverlagen aufleuchten. Eine Reihe heißt „Feld der Wissenschaft (fdw)“. Ähnlichkeiten zu Suhrkampreihe „stw“ sind durchaus gewollt. Nikola Blaskovic nimmt mit Ironie die Hermetik dieser Reihe aufs Korn, ohne die geistige Arbeit dieser Veröffentlichungen jedoch abzukanzeln. Eine gewisse Andrea Schmidt hat da ein Buch namens „Reisebericht aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis“ veröffentlicht. Und Karl Meyer trägt zum geisteswissenschaftlichen Diskurs des Abendlandes einen Titel namens „Anfang ohne Änderung“ bei. Anfang ohne Änderung? Das ist einfach köstlich. Oder vielleicht ist es doch ein heimlich gehegter Wunsch? Christoph Köster

Bis zum 28. Mai, Städtische Galerie, Buntentorsteinweg 112, Öffz.: Di und Do 10-18 Uhr, Mi und Fr 10-16 Uhr sowie So 11-16 Uhr