Vergessen und verdrängt

Ein Handbuch erinnert engagiert an die Kinder, die als Flüchtlinge ohne ihre Eltern nach Deutschland kamen und hier seit Jahren am Rand der Gesellschaft leben
von TIMM KUNSTREICH

Die Bilder von flüchtenden Kinder flimmern seit Jahren regelmäßig über unsere Bildschirme. Vertrieben aus Kriegsgebieten, vielfach dem Tod nur knapp entronnen, müssen sie sich oft ohne ihre Eltern und Geschwister durchschlagen – und ihr Land verlassen. Auch in Deutschland leben zahlreiche solcher Flüchtlingskinder, ohne dass die Öffentlichkeit groß davon Notiz genommen hätte. Was mit ihnen passiert oder passieren sollte, diskutieren nun 96 Autoren in dem mächtigen „Handbuch der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen“. Den HerausgeberInnen ist es darin gelungen, eine große Anzahl kompetenter Fachleute aus verschiedenen Praxisfeldern, aus Fachhochschulen und Universitäten zu versammeln, um über ein – auf den ersten Blick – „randständiges“ Thema zu informieren.

Dass Kinderflüchtlinge tatsächlich am Rand vieler sozialer Felder und gesellschaftlicher Rechte stehen, ist unbestritten – und ein Skandal: In wohl keinem gesellschaftlichen Feld wird die eigene Verfassung derart systematisch gebrochen, werden Grundrechte so rigoros außer Kraft gesetzt und die humanitären Postulate aller beteiligten Professionen so systematisch dementiert wie bei Flüchtlingskindern – und das von Beamten, Medizinern genauso wie von Juristen.

Deshalb auch wurde aus einem Handbuch für die Praxis ein so umfangreiches und tief gehendes Werk. Die zwölf Kapitel lassen sich zu vier Schwerpunkten zusammenfassen: (1) Kindheit und Flucht, (2) rechtliche und institutionelle Aufnahmebedingungen, (3) psychosoziale Unterstützung, (4) gesellschaftliche Barrieren.

(1) Manfred Liebel gibt den Tenor für diesen Themenschwerpunkt vor, der sich dann weiter durch das ganze Handbuch zieht: In kritischer Abgrenzung zur Eurozentriertheit, aber auch zur Erwachsenenzentriertheit vieler Blicke auf die Kinder der Dritten Welt, hebt er – ohne Elend und Ausbeutung zu verniedlichen – die Bedeutung von Arbeit und der Anerkennung der besonderen Überlebensstrategien dieser Kinder und Jugendlichen hervor. Länder- und religionskundliche Überblicke (vor allem von Renate Holzapfel) vertiefen das Thema „Unterschiede“ , während die Auseinandersetzung mit Ethnizität und Kolonialismus überleitet zur „gepanzerten“ institutionellen Sichtweise von Flucht und Migration in Europa. Der Stand der derzeitigen Verschärfung der Asylpolitik und der Verhinderung einer Einwanderungspolitik wird präzise dargestellt. Abgeschlossen wird dieser Themenschwerpunkt durch einen Bericht von Rebecca Göpford über Kindertransporte aus der Zeit der Vertreibung der Juden aus Deutschland, in dem deutlich wird, dass die langfristige Verarbeitung einer solchen Vertreibung ganz entschieden von den wertschätzenden oder diskriminierenden Bedingungen in dem jeweiligen Aufnahmeland abhängt.

(2) Die Erinnerung daran scheint bei uns wie weggeblasen. Das ist jedenfalls der Eindruck, den die Artikel zum zweiten Themenschwerpunkt nahe legen. Die Ausführungen zu Recht und Gesetz, Aufnahmebedingungen, Behörden und Institutionen vermitteln anschaulich die gesetzlichen Grundlagen und deren reale Bearbeitung. Selbst einen halbwegs informierten Leser wird es erschüttern, mit welcher Unverfrorenheit die Bundesrepublik sich weigert, sowohl das Haager Minderjährigenschutzabkommen als auch die UN-Kinderrechtskonvention in die Praxis umzusetzen. Diese und andere „Tatbestände“ kommentiert Berthold Huber, Richter am Verwaltungsgericht in Frankfurt, sachlich und sehr kritisch – und er zeigt, dass auch mögliche alternative Gesetzesauslegungen nicht realisiert werden.

(3) Hier geht es um die psychosoziale Entwicklung von Kinderflüchtlingen, um Schule und Ausbildung, um Betreuung und Versorgung in Arbeitsfeldern der Jugendhilfe. Zudem werden die entsprechenden sozialpädagogischen Konzepte und Arbeitsansätze ebenso analysiert wie die Themen Krankheit und psychische Störungen. In jedem der Artikel wird deutlich, dass Flüchtlingskinder fast immer anders als einheimische Kinder und Jugendliche behandelt werden. Ob es nun die diskriminierende Alterseinschätzung ist, die Unterbringung oder die Ausgrenzung von Schulbesuchen und sinnvoller Arbeit – oder die Symptomatik von Störungen: Überall schlägt die tendenzielle Rechtlosigkeit durch. Dass dennoch die individuellen und gruppenspezifischen Überlebensstrategien als Ansatzpunkte professionellen Handelns in den Vordergrund gestellt werden, zeigt sowohl die Begrenztheit eben dieser Interventionen als auch die Findigkeit der Professionellen, trotz aller Beschränkungen dennoch „Sinnhaftes“ zu tun.

(4) Der letzte und kürzeste Themenschwerpunkt diskutiert „Gesellschaftliche Barrieren“. In ihm werden viele Fäden der vorhergehenden Artikel aufgenommen und präzisiert. Hervorheben möchte ich Birgit Rommelspachers Artikel zu Diskriminierung und Dominanzkultur, in dem sie die kulturell verankerten Ausgrenzungsmechanismen gegenüber Kinderflüchtlingen untersucht. Dass es sich hier um ein strittiges Thema handelt, zeigen die letzten beiden Artikel, in denen unterschiedliche Positionen zu Rassismus und Xenophobie die Spannbreite der Diskussion deutlich machen.

Es gibt sicher noch viele andere Zugänge zu diesem Handbuch. Deutlich sollte geworden sein, dass es weit mehr als ein „Spezial“-Handbuch ist. Wenn ein gutes Handbuch so etwas wie ein Scharnier zwischen der Profession und der Disziplin ist, also sowohl im professionellen Handlungsalltag unterstützt als auch kritische Reflexion ermöglicht, dann ist dieses Handbuch ganz sicher gelungen. Es setzt damit die Reihe derjenigen Handbücher des Votum Verlags fort, die – in ähnlicher Qualität – bisher erschienen sind („Kinder- und Jugendschutz“ 1995, „Offene Jugendarbeit“, 2. Auflage 1998, „Jugendhilfeplanung“ 1998). Für die wünschenswerte Fortsetzung der Reihe ist mit diesem Handbuch ein Qualitätsmaßstab gesetzt.

WOGE e. V./Institut für soziale Arbeit e. V. (Hg.): „Handbuch der Sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen“. Votum, Münster 1999, 676 S., 69 DM

Zitat: Wohl nirgends sonst werden Grundrechte so außer Kraft gesetzt wie bei Kinderflüchtlingen