Die geteilten Geschichten

Bei Roddy Doyles Irland-Roman „Henry der Held“ verblüffen die vielen Parallelen mit Frank McCourts Bestseller „Die Asche meiner Mutter“. Ein Held ist der Erzähler aber keineswegs
von RALF SOTSCHECK

Sympathisch ist er nicht. Henry Smart ist ein Großmaul, ein Totschläger, er hält sich für unwiderstehlich. Der Icherzähler in Roddy Doyles neuem Buch „Henry der Held“ kommt 1901 in den Slums von Dublin auf die Welt. Sein Vater, der auch Henry heißt, ist Rausschmeißer in einem Bordell und nebenbei Auftragsmörder. Seine Opfer erledigt er mit seinem Holzbein, und Sohn Henry macht es später mit dem geerbten Holzbein ebenso.

Kaum kann er laufen, ist er auf der Straße und stiehlt oder bettelt. Mit vierzehn nimmt er am fehlgeschlagenen Osteraufstand teil, der bei Doyle jedoch nicht, wie häufig in der irischen Literatur, romantisch verklärt wird, sondern eine Kette von Prügeleien und Massakern ist. Henry ist kein Rebell, er ist aus Spaß am Krawall dabei, und aus demselben Grund nimmt er am Unabhängigkeitskrieg ein paar Jahre später teil. Dann hat er genug von Irland. „Ich konnte nicht bleiben. Jeder Hauch von Irlands abgestandener Luft, jeder Quadratzoll seiner Erde verhöhnte mich, grapschte nach meinen Knöcheln. Das Land brauchte Blut zum Überleben, und meins würde es nicht kriegen.“ Henry geht nach Liverpool und dann nach Amerika.

„Henry der Held“ ist Doyles sechster Roman. Bisher hat er sich ausschließlich mit der Gegenwart, den Arbeitervierteln Nord-Dublins, wo der 41 Jahre alte Autor lebt, beschäftigt, zum Beispiel in den „Commitments“ und den folgenden Teilen der Barrytown-Trilogie, oder in „Paddy Clarke Ha Ha Ha“, für das er 1993 den Booker-Preis gewann. Danach gab er den Lehrerberuf auf.

„Henry der Held“ weist verblüffend viele Parallelen mit Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“ auf. Bei McCourt sterben drei Geschwister, bei Doyle sind es vier. „Dann ist er sowieso gestorben“, schreibt McCourt lakonisch über seinen jüngeren Bruder. Bei Doyle heißt es genauso lakonisch, als Henrys kleiner Bruder stirbt: „Und dann war Victor auf einmal tot.“

McCourts Eltern hatten nur ein Bett, bei Familie Smart kämpfen „alle um den Platz auf der jämmerlichen alten Matratze“. Der kleine Frank wird wütend, als sein Vater dem jüngeren Bruder dieselben Geschichten erzählt, die er auch ihm erzählt hat, weil er sie als sein Eigentum erachtet. Bei Doyle heißt es: „Ich teilte alles mit Victor, sogar die Geschichten, die allein mir gehörten.“ Bei McCourt kommt eine hilfsbereite Jüdin vor, Frau Leibowitz, bei Doyle ist es ein netter russischer Jude, Mister Lipman. McCourts Vater und Henry Smarts Mutter sind dem Alkohol verfallen. McCourt hat von der Bindehautentzündung gelbe Augen, bei Henry sind sie gelb vom Grind. McCourt musste seinem Vater versprechen, dass er bereit sei, für Irland zu sterben. Doyles Henry sagt: „Ich war bereit, für Irland zu sterben.“ Und zum Schluss wandern beide aus, Frank und Henry.

Trotz der Übereinstimmungen sind es grundverschiedene Bücher. McCourt trifft mit einfachen sprachlichen Mitteln einen humorvollen Erzählton, der sich durch das ganze Buch zieht, während Doyle noch immer die Sprache der „Commitments“ verwendet, jener Band des modernen Dublin. Dort war diese Sprache auch angemessen, während sie bei Henry aufgesetzt wirkt: „Über uns fickten die Funken“, so beschreibt er das brennende Postamt, und von sich selbst sagt Henry: „Ich fickte Frauen, die mich ficken wollten.“ Selbst in Irland ruft dieses Wort, das mit ermüdender Regelmäßigkeit bei Doyle auftaucht, längst kein Stirnrunzeln mehr hervor.

Henry erzählt seine Geschichte zunächst mit kindlichen, kurzen Sätzen: „Tag für Tag. Er schlief nie. Er küsste meine Mutter. Er küsste mich. Dann ging er. Zu seiner Arbeit.“ Oder an anderer Stelle: „Bin auch noch daaaa! Was ist mit miiir?“ Das ist in Ordnung, aber er hält die Kindersprache nicht durch. Der achtjährige Henry sagt zu seinem Bruder: „Wir müssen sehen, dass wir uns bilden.“ Und dann meint der Knirps zur Lehrerin Miss O'Shea im Stile John Waynes: „Merken Sie sich, dass Sie die Frau waren, die Henry Smart beigebracht hat, seinen Namen zu schreiben.“

Henrys Geschichte weist Lücken auf. Gerade noch wird er aus der Grundschule geworfen, da schläft er im nächsten Kapitel im Keller der Hauptpost mit der Lehrerin, während sich oben im brennenden Gebäude die Rebellen gegen die Angriffe der britischen Armee wehren. Wie er zu den Aufständischen gestoßen ist, bleibt unklar. Später heiratet er die Lehrerin, hält sich bei der Zeremonie aber die Ohren zu, weil er ihren Vornamen nicht erfahren will. „Sie war und blieb meine Miss O'Shea.“ Sie landet für ihre Teilnahme am Bürgerkrieg im Gefängnis, Henry, der Überlebenskünstler, kommt davon.

Die Szenen, in denen Menschen umgebracht werden, zeigen Doyles erzählerische Grenzen am deutlichsten auf. „Sein Hirn und Haar waren auf meiner Jacke“, heißt es beim Osteraufstand, und als Henry nach der Unabhängigkeit einen ehrbar gewordenen Gangster umbringt, schreibt Doyle: „An meinen Hosen und Händen waren Knochen und Hirn.“

Hin und wieder blitzt aber auch Doyles Sprachwitz auf, der bei der Barrytown-Trilogie so gut zur Geltung kam. Über den Wettlauf, ein Baby so schnell wie möglich zu taufen, damit es in den Himmel kommt, falls es stirbt, sinniert Henry: „ER nahm sie zurück, kaum dass er sie geliefert hatte, aber er verwarf sie, wenn ihre Seelen noch befleckt waren. Er lieferte sie schmutzig, verlangte sie aber makellos retour.“

Der englische Regisseur Alan Parker hat sowohl Doyles „Commitments“ als auch McCourts „Asche meiner Mutter“ glänzend verfilmt. McCourt hat seinen Kindheitserinnerungen einen zweiten Teil folgen lassen, der in Amerika spielt. Henrys Geschichte geht in Chicago weiter, sie ist auf drei Teile angelegt.

Roddy Doyle: „Henry der Held“, W. Krüger Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 414 Seiten, 39,80 DM

Hinweis:Seine Opfer erledigt Henrys Vater mit seinem Holzbein. Sohn Henry macht es später ebenso