Kein Wort über Helmut Kohl

Von vielem sprach Wolfgang Schäuble in seiner Abschiedsrede als Vorsitzender. Aber nicht von dem, dessen Verhalten ihn zum Abschied zwang

aus EssenBETTINA GAUS

Eine Massenorganisation ändert sich nicht über Nacht. Die neue CDU ist immer noch – auch – die alte CDU. Rund drei Minuten dauert der Beifall, den die Delegierten des Parteitags in der Essener Grugahalle stehend ihrem scheidenden Vorsitzendem Wolfgang Schäuble nach seiner Rede spenden. Jubelnde Zustimmung für den Mann, dem seine tiefe persönliche Verletzung in den letzten Tagen und Wochen auf fast schmerzhafte Weise anzumerken war? Ach, nein. So verlässlich erhalten Parteivorsitzende derlei Ovationen inzwischen – und nicht nur bei der CDU –, dass sie längst zum Ritual erstarrt sind. Es erfüllt seinen Zweck. Trennende Gräben werden von rhythmischem Klatschen nicht zugeschüttet, aber unsichtbar gemacht.

Schäuble hat den Beifall äußerlich unbewegt entgegengenommen. Auch die Abschiedsrede selbst hat er nüchtern, unterkühlt über weite Strecken in trockenem, dozierendem Ton gehalten. Lange ist für ein Zeichen von Selbstbeherrschung und auch für wägendes strategisches Geschick gehalten worden, dass Wolfgang Schäuble in der Öffentlichkeit kaum je Gefühle zeigt. Fehlt ihm wirklich der Wille dazu? Oder mangelt es ihm nicht vielmehr an der Fähigkeit? Der alte Parteisoldat hätte gestern viele gute Gründe gehabt, für seine eigene Person zu werben – und es gab keinen Grund, der gegen eine persönlich gefärbte, auch wehmütige Rede gesprochen hätte. Außer einem einzigen: Wolfgang Schäuble hat diese Rede vielleicht einfach deshalb nicht gehalten, weil er eine solche Rede nicht halten kann.

Vieles von dem, was er gesagt hat, sagt er seit Jahren. Den Prozess der europäischen Einigung lobte er als Antwort auf die schrecklichen Kriege der Vergangenheit. Er sprach über die Herausforderungen und Aufgaben für die „neue soziale Marktwirtschaft“. Die Rolle der Vereinten Nationen, die Klimaschutzkonferenzen, die WTO. Familienpolitik, Rentenpolitik, Gesundheitspolitik. Beschäftigung für alle. Die lernende Gesellschaft. Gibt es irgend ein Sachthema, das Schäuble nicht wenigstens gestreift hat?

Das Publikum ermüdet. Das Interesse erlahmt – nicht nur unten im Saal, sondern auch oben auf dem Podium, wo das Präsidium sitzt. Selbst Angela Merkel wirkt desinteressiert, die doch zumindest aus Gründen der Höflichkeit wenigstens vorgeben müsste, aufmerksam zu lauschen. Sie liest, plaudert mit Nachbarn. Immer seltener wird die Rede von Beifall unterbrochen, am Schluss nicht einmal mehr an den Stellen, die erkennbar dafür vorgesehen waren. „Rot-Grün versteht davon nichts.“ Einige wenige Hände rühren sich zu vorsichtigem Applaus. Er erstirbt schnell.

Spätestens seit Schäuble in einer Fernsehdokumentation von einer Intrige gegen seine Person gesprochen hat, die auch kriminelle Elemente enthalten habe, weiß die Öffentlichkeit, welch tiefe, auch bittere Gefühle den scheidenden CDU-Vorsitzenden derzeit bewegen. Auch in persönlichen Gesprächen unterdrückt er in diesen Tagen seine Enttäuschung über den Gang der Dinge und über das Verhalten mancher Parteifreunde nicht.

Wie dünn der Firnis der Loyalität ist, wurde gerade in den letzten Tagen deutlich. Noch vor wenigen Wochen war Wolfgang Schäuble von zahlreichen Fraktionskollegen als Opfer der Spendenaffäre bezeichnet worden. Als er aber dann selbst seinem Herzen Luft gemacht hatte, war der Unmut groß. So groß, dass bereits ein lautes Raunen zu hören war: Gesichert sei seine Wahl ins Präsidium keineswegs. Da könne noch viel passieren. Die neue offene Diskussionskultur in der CDU hat enge Grenzen.

Wolfgang Schäuble hat – vielleicht unfreiwillig – gestern erkennen lassen, wie sehnsüchtig er wünscht, dass seine Leistungen als CDU-Vorsitzender gebührend gewürdigt werden mögen. Ausführlich erinnerte er an all das, was aus seiner Sicht die Erfolge seiner Amtszeit gewesen sind: „Rot-grünes Chaos“ sei offenbar geworden, Oskar Lafontaine „davongelaufen“. Das Gesetz zur Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft wurde verhindert. Auf europäischer Ebene, in mehreren Bundesländern und in vielen Kommunen hat die Union Wahlen gewonnen. „Teilweise fast erdrutschartig“ seien die Siege gewesen, sagte Schäuble, „jedenfalls schön und erfolgreich“.

Aber natürlich weiß auch er, dass seine Amtszeit für immer mit der Aufdeckung der Spendenaffäre verbunden sein wird. „Unvermittelt, wie der Blitz aus heiterem Himmel“ habe die Krise eingeschlagen. „Kein Blick zurück im Zorn. Aber Lehren müssen wir ziehen.“ Aus „eigener Kraft“ sei aufgeklärt worden. „Es hat wehgetan und die Partei als Ganzes wie viele Einzelne manchmal fast zerrissen.“ Das liest sich wie ein Satz, der Emotionen wecken kann. Aber Schäuble spricht ihn betont sachlich. Merkt er nicht, dass er gerade seine Chance verspielt, am Ende seines langen Wirkens in der ersten Reihe auch die Zuneigung der Delegierten zu gewinnen, denen der kühle Intellektuelle oft allzu distanziert gewesen ist?

Loyalität ist ein Schlüsselbegriff im politischen Leben von Wolfgang Schäuble – vielleicht sogar die Überschrift über seine Biografie. Auch davon hat er gestern gesprochen: „Wenn Führung auf undemokratische Mittel verzichten soll, braucht sie Unterstützung auf der Grundlage von Wahlen und Abstimmungen. Das ist Loyalität. Sie sei aber keine Einbahnstraße. Und dann: „Ich habe versucht, meinen Beitrag zu leisten.“ Da erhebt sich spontaner, freundlicher Beifall. Schäuble schweigt. Er lässt den Applaus anschwellen, immer länger, bis er dann wirklich rauschend genannt werden kann.

Doch welchem Umstand gilt der Applaus: Schäubles Loyalität – oder seiner Bereitschaft zum Rückzug?

Manches hat der scheidende Vorsitzenden nicht erwähnt. Nicht ein einziges Mal nannte er Helmut Kohl. Wenige Worte hat er über die Serie von Regionalkonferenzen verloren, die er noch kürzlich als Hinweis auf die neue, offene Diskussionskultur in der CDU bezeichnet hat und auf denen Angela Merkel von der Basis zu seiner Nachfolgerin gekürt worden ist. Auch von ihr ist nur ganz beiläufig die Rede. Eine „gute Generalsekretärin“ sei sie gewesen, und er wünsche der neuen Parteiführung „noch mehr“ Vertrauen und Unterstützung, als er selbst erfahren habe. Haben diejenigen Recht, die munkeln, auch das Verhältnis zwischen Schäuble und Merkel sei längst nicht mehr unbelastet?

Ganz versteckt hat Schäuble gestern seiner Partei übrigens auch noch eine Mahnung mit auf den Weg gegeben: „Wir sind noch nicht übern Berg, und ich warne davor, schon wieder weitermachen zu wollen wie in alten Zeiten.“ An dieser Stelle gab es überhaupt keinen Beifall. Aber Schäuble hat diese Empfehlung ja auch so beiläufig ausgesprochen, dass sie vielleicht gar nicht richtig ins Bewusstsein der Versammlung gedrungen ist.