Ein LehrerInnenstreik – zwei Meinungen

Der Streik ist legitim. Von JULIA NAUMANN

Wenn heute ein Großteil der LehrerInnen für einige Stunden die Arbeit niederlegt, dann geht es ihnen nicht nur um Besitzstandswahrung. Es geht ihnen auch nicht nur um die pauschale Erhöhung der Lehrerarbeitszeit um eine Stunde.

Es geht den LehrerInnen vielmehr auch darum, mit drastischen Mitteln zu zeigen, dass die Berliner Schulen in einer massiven Krise stecken. Keiner der Streikenden wird ernsthaft erwarten, dass morgen die Arbeitszeiterhöhung bei der Verabschiedung des Gesamthaushaltes vom Abgeordnetenhaus doch noch zurückgenommen wird.

Dennoch ist der Streik legitim. Er steht nach der Großdemonstration von Eltern, SchülerInnen und LehrerInnen Mitte März als Symbol dafür, dass sich an der Situation an den Schulen dringend etwas ändern muss. Denn sonst wird die Chancengleichheit der Kinder und Jugendlichen immer geringer.

Die Arbeitszeiterhöhung zieht nämlich eine ganze Reihe von Verschlechterungen nach sich. Aus Kostengründen werden weniger junge, motivierte Lehrer eingestellt, dafür muss das überalterte Kollegium mehr arbeiten.Wenn an einer Schule mit 30 Lehrern jeder eine Stunde mehr unterrichtet, kann die Anzahl auf 29 reduziert werden.

Der Krankenstand und Frust wird weiter steigen. Die Folge: Unterrichtsausfall. Teilungs- und Förderstunden für Kinder nicht deutscher Herkunftssprache und sozial benachteiligte Kinder fallen weg, weil die Schulen es sich nicht mehr leisten können, die Klassen in kleineren Grüppchen zu unterrichten.

Der Streik ist deshalb auch berechtigt, weil er eine breite Schicht von Eltern und Schülern mobilisiert und politisiert. Durch den Streik sind sie gezwungen, sich mit den Schulstrukturen auseinander zu setzen. Deshalb sind heute insbesondere auch Aktionen in den Schulen zu begrüßen, bei denen nicht nur LehrerInnen mitmachen, sondern an denen auch Eltern und Schüler teilnehmen.

Nur eine breite Bewegung – und nicht allein die GEW mit ihren ewig gleichen Argumenten – kann den politischen Druck aufrecht erhalten, dass im Bildungsbereich zukünftig nicht mehr gekürzt wird. Die Großdemo und der Streik bieten dafür eine gute Gelegenheit.

Der Streik ist ungerechtfertigt. Von PHILIPP GESSLER

Die Berliner Lehrer sollen pro Woche eine Stunde länger Unterricht geben, und schon treibt es sie auf die Straße. Der Auslöser des Streiks ist verdächtig: Es geht den Lehrern offenbar nur am Rande um die schon lange anhaltende Bildungsmisere und ihre Schützlinge. Denn die waren den Paukern bisher keinen Streik wert. Wenn es ihnen wirklich vor allem um die Schüler ginge, hätten sie schon vor Jahren protestieren müssen: gegen zu viel Unterrichtsausfall, immer schmuddeliger werdende Schulgebäude und überalterte Kollegien. Doch erst wenn es ihnen selbst an den Kragen geht, werden sie aktiv. Dabei müssen sie schon jetzt in der Regel nicht mehr als 25 Stunden in der Woche unterrichten. Ist da eine Stunde angesichts ihrer vergleichsweise guten Bezahlung wirklich zu viel verlangt?

Außerdem: Die meisten Lehrer sind Beamte, die eigentlich nicht streiken dürfen. Schon deren fragwürdige Arbeitsplatzsicherheit bis zum Ruhestand, von der die meisten anderen Arbeitnehmer nur träumen können, würde eine so gemäßigte Mehrbelastung rechtfertigen. Zwar erwarten die Lehrer als Staatsdiener, dass das Land ihnen trotz über 15-prozentiger Arbeitslosigkeit in der Stadt alle Risiken nimmt. Gleichzeitig empören sie sich, wenn der Senat dann verlangt, dass man als Lehrer auch einen besonderen Einsatz zeigen muss, wenn die Not wie derzeit groß ist. Ist das konsequent?

Die ostdeutschen Metallarbeiter haben eben einem Tarifabschluss zugestimmt, der ihnen im Vergleich zu ihren Westkollegen eine wöchentliche Mehrarbeit von drei Stunden zumutet – schon bei einer greifen die Lehrer zu ihrem stärksten Drohmittel, dem Streik. Der weltweite Druck einer sich immer schneller drehenden Wirtschaft und Gesellschaft verlangt von jedem Arbeitnehmer mehr Engagement. Warum glauben die Berliner Lehrer, davon frei zu sein? Zumal die Pädagogen der Hauptstadt im Vergleich zu anderen Bundesländern oder gar Staaten unterdurchschnittlich wenig arbeiten.

Nein, hier geht es weniger um die Bildungsmisere als um die Machtdemonstration einer Gewerkschaft. Und nicht die Schüler, die Medien will man gewinnen. Das wird gelingen, immerhin. Einen Ausweg aus dem Schulnotstand weist der Streik nicht.