Das konservative Dilemma

Auch die Wahl der Renaissancefrau Merkel kann es nicht verbrämen: Die CDU hat ihre traditionellen Themen verloren. Die Partei schwankt zwischen Tradition und Moderne

Die Union hat die instinktive Beziehung zur gesellschaftlichen Mehrheit verloren

von CLAUS LEGGEWIE

Ein halbes Jahr nach der „Spendenaffäre“ der Union darf man sich fragen, welche vorläufige Bilanz für das politische System der Berliner Republik zu ziehen ist. Die spontane Antwort, die einem zweiten Blick standhält, lautet: Für die Union hat sich vieles, für die Bundesrepublik zunächst eher wenig verändert. Keine Verhaiderung, auch nicht, wie angekündigt, „italienische Verhältnisse“, nicht mal eine nennenswerte Wahlenthaltung oder erdrutschartige Verschiebungen zwischen den politischen Lagern haben die Stabilität erschüttert. Allein die anhaltende (und nicht gerade beruhigende) Distanz der Jungwählerschaft zum politischen Betrieb trübt das Bild, doch anders als in der Werbung oder im Kulturbetrieb ist das bedauerlicherweise keine Zielgruppe, die sonderlich von sich reden machte.

Die Wirkungen der Krise werden mittelfristiger Natur sein und sich nicht auf die CDU beschränken. Sie hat es so stark zerzaust, dass im April 2000 eine ostdeutsche CDU-Vorsitzende ohne Gegenkandidaten und Alternative sein konnte; ihr Team nimmt sich wie eine erweiterte Schüler-Union aus und hat mit den Brüdern und Söhnen Helmut Kohls gleich zwei Alterskohorten auf die Schmoll- und Hinterbänke verwiesen. Merkel/Merz/Polenz/Cartellieri sind sogar fähig, nicht erst die übernächste Bundestagswahl zu gewinnen. Denn Frau Merkels Name und Aura stehen dafür, dass Ostdeutsche auch außerhalb der ins Trudeln geratenen PDS eine Wahl-Heimat finden, dass die verjüngte Union zur Partei der Jungwähler wird und die weibliche Schwäche für Rot-Grün relativiert wird. Dann wären am Ende nur zwei, drei Landtagswahlen verloren gegangen.

Mitglieder und Anhänger der „neuen CDU“ haben nicht mit Abwanderung reagiert, sondern teilweise mit Widerspruch zum System Kohl und überwiegend mit Loyalität zu dessen „großer Volkspartei der Mitte“. Vielleicht stehen weitere peinliche Enthüllungen bevor (es gab nicht nur schwarze Kassen, sondern handfeste Korruption); auch wird weiter Wäsche gewaschen werden, deren Schmutzgrad der zum Abwickler degradierte Wolfgang Schäuble ein Stück vorgeführt hat. Das Auftauchen Rainer Barzels in Essen erinnerte daran, zu welchen Diadochenkämpfen die Union fähig ist; und sicherlich sinnen die aufs Altenteil geschobenen Unions-Barone auf Revanche und gebremste Jungwilde auf ein Comeback. Elisabeth Noelle- Neumann, die das abgetauchte System bestens kennt, hat bemerkenswerte Daten über dessen Fortleben mitgeteilt (FAZ, 11. 4. 2000): Im christdemokratischen „Miljöh“ trauert man dem Patriarchen nach und will auch, was Jürgen Rüttgers der niederrheinischen Tiefebene abgelauscht hat: lieber Kinder statt Inder.

Der ostdeutschen Renaissancefrau, die auf manche doch libertinageverdächtig wirkt, hat der Essener Parteitag eine ganze Riege tief im Westen verwurzelter Nordrhein-Westfalen an die Seite gestellt. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Angela Merkel, der manche schon popkulturelle Fähigkeiten andichten, ist weniger Antipodin des Systems Kohl als die Brücke von dort zur Parteijugend, die ihre Chance dieses Mal beherzter genutzt hat. Der Parteivorsitz ist viel, aber auch schon alles: In der Fraktion ist Angela Merkel eine unter vielen, und ihre Hausmacht in den Landesverbänden ist schwächer, als es die Essener Akklamation glauben macht. So kann eine Brücke auch rasch zur Überbrückung werden, wenn es ums Eingemachte geht, die Kanzlerkandidatur. Man darf aber sicher sein, dass Frau Merkel beherzt kämpfen wird. Die „Jungs“ in Partei und Presse, die off the record den mäkelnden Ton angeben, könnten sich gewaltig verschätzen.

Eine alte Stärke der Union war die Flexibilität der locker verkoppelten und satt in den Landesverbänden ruhenden Volkspartei. Das ist aber fast schon alles, was die konservative Partei aus der Vergangenheit an Trost und aus der Krise an Katharsis gewinnen kann. Ihr fehlen die Stützen der Bonner Republik: der Antisozialismus, die Europapolitik, das hohe C und der rheinische Kapitalismus. Entweder sind die Missionen erfüllt (Wiedervereinigung und Europäische Union) und nur um einen hohen Preis in forcierten Nationalismus und Euroskepsis zu transformieren, oder sechzehn Jahre liberal-konservative Politik haben den alten Sozialmilieus der Partei selbst den Rest gegeben und dem Wohlfahrtsstaat einen Schlag versetzt.

Das Merkel-Team nimmt sich wie eine erweiterte Schüler-Union aus

Sichtbar schwer hat sich die Union schon vor dem Spendenskandal damit getan, die spezifische Differenz zur „neuen Mitte“ zu verdeutlichen. Der radikale Marktliberalismus, den einige junge Wirtschafts- und Sozialpolitiker der Union jetzt endlich verwirklicht sehen wollen, verfängt bei der guten alten CDU ebenso wenig wie in den Traditionskreisen der SPD; wie das Schicksal der Freidemokraten zeigt, ist diese Konzentration auf Besserverdienende auch nach wie vor unpopulär. Ebenso wenig trüge die „sozial-demokratische“ Profilierung als Anwalt der „kleinen Leute“ ein, mit der die Union die Schröder-SPD gewissermaßen links überholen würde; leicht verirrt man sich dabei in hässlichsten Nationalpopulismus und Xenophobie. Die neue Unionsführung hat programmatische Vorschläge in petto, die familien- und sozialpolitisch einen kräftigen Schritt nach vorn wagen und auch demokratiepolitisch beachtlich sind – womit sie am stärksten mit den Grünen konkurriert und auch wieder die schwarz-grüne Option ins Spiel kommt, die längst obsolet schien.

Die Union hat in den letzten Monaten aber vor allem eines verloren, was sie über Jahrzehnte hinweg auszeichnete: die instinktive Beziehung zur gesellschaftlichen Mehrheit. Im Augenblick flattert sie, wie die Sozialdemokratie in ihrem langen Oppositionswinter, zwischen Tradition und Moderne. Ein allfälliger, lange verdrängter Konflikt zwischen „Territorialismus“ und „Globalismus“ durchzieht die Union und versetzt sie in das gleiche Dilemma, unter dem alle bürgerlich-konservativen Parteien zu leiden haben – manche von ihnen hat es zerrissen. Der Kapitalismus untergrub schon alle Werte, für die Bewahrer stehen: Ordnung, Vaterland, Familie, aber die globale Beschleunigung pulverisiert solche Leitmotive geradezu. Der faule Kompromiss, dass man Werte erhalten könne, deren institutionellen Trägern man (un)willentlich den Boden entzieht, trägt nicht mehr. Manche empfehlen der Union deshalb einen nationalkonservativen, neoetatistischen Kurs gegen die „revolutionäre Desintegration“ (Alexander Gauland) des Weltmarktes. Doch eine Kombination national- und sozialkonservativer Widerstände würde die Union wohl in das Zwanzig-Prozent-Getto sperren, in dem konservative Schwesterparteien seit langem stecken.

Fazit: Nicht nur die Union steckt in einer Krise und muss sich erneuern. Alle Parteien ringen um eine neue Rolle und Daseinsberechtigung vor dem Hintergrund eines identischen Konfliktes. Die Nase vorn haben wird am Ende jene Kraft, die den brisanten Mentalitäts- und Interessengegensatz zwischen Territorialisten und Globalisten mit einer europäisch modernen Lösung befriedet und bearbeitet.