Fremde in der neuen alten Heimat

In Berlin-Hellersdorf leben sieben Prozent Spätaussiedler. Weil es mit der Integration nicht klappt, bietet ihnen ein kleines Team Hilfe zur Selbsthilfe

von LUKAS WALLRAFF

„Einen Moment bitte, für Ausländer ist meine Kollegin zuständig.“ Die freundliche Mitarbeiterin des Hellersdorfer Sozialamts zögert kurz, dann korrigiert sie sich: „Entschuldigung, also, ick meine, eigentlich sind det ja gar keine Ausländer.“ Eigentlich.

Für Aussiedler gelten eigene Gesetze. Sie brauchen keine Green Card, kein Asyl und keine Duldung. Weil sie deutsche Vorfahren haben, bekommen sie einen deutschen Pass und die Sicherheit, für immer bleiben zu dürfen – ein Vorteil, mit dem sie sich leichter integrieren und mit dem sie leichter Arbeit finden müssten als Ausländer, die wirklich Ausländer sind. Eigentlich. Fast zwei Millionen dieser Ausländer, die keine sein sollen, sind seit dem Ende der Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Damit stieg die Zahl der Aussiedler, die seit 1950 aufgenommen wurden, auf rund 4 Millionen.

Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Jochen Welt (SPD), zeichnete vor einer Woche ein recht düsteres Bild von den Zukunftschancen für Aussiedler in Deutschland. „Mangelnde Deutschkenntnisse, Probleme bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen und die schwierige Arbeitsmarktlage“ hätten zur Folge, dass jugendliche Aussiedler immer schwerer eine Lehrstelle erhielten. Auch könnten viele Aussiedler nach der Einreise nicht in ihrem erlernten Beruf tätig sein.

Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda (CDU), äußerte sich gestern wesentlich optimistischer. Vor allem höher qualifizierte Aussiedler fänden „relativ leicht“ eine Stelle.

Die Union hat sich seit je für den Zuzug von Aussiedlern stark gemacht, die SPD ist traditionell skeptischer. Im Europawahlkampf 1996 scheute sich der damalige Parteichef Oskar Lafontaine nicht, Stimmung gegen die Aussiedler zu machen: Die jährliche Einwanderung von bis zu 400.000 Deutschstämmigen sei verantwortungslos.

Inzwischen ist der jährliche Zuzug auf 100.000 zurückgegangen. Verantwortlich dafür sind zum einen verschärfte Anforderungen bei den für die Einreise nötigen Sprachtests und zum anderen der Fakt, dass viele der jüngeren Einreisewilligen kaum noch mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind.

Aussiedlerfeindliche Polemik kann man der SPD zwar nicht mehr vorwerfen – wohl aber, dass sie eine Gruppe von Einwanderern vernachlässigt. Hans-Harald Müller kann über das mangelnde Interesse am Schicksal der Aussiedler nur den Kopf schütteln. Er leitet die Beratungsstelle „Pro Migrant“ in Hellersdorf und hat jeden Tag mit Leuten zu tun, die sich fremd fühlen. Ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht. „Für unsere tägliche Arbeit macht das keinen großen Unterschied.“ Müller und seine Mitarbeiter gehen nicht nach der Nationalität ihrer Klienten. Sie helfen Menschen, die sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden müssen.

Im vergangenen Jahren waren 87,1 Prozent der Ratsuchenden bei „Pro Migrant“ Aussiedler. Dafür gibt es zwei Gründe: Wie in allen Ostberliner Bezirken lebten in Hellersdorf vor der Wende relativ wenige Ausländer, und viele sind seither nicht zugezogen. Der Anteil der Aussiedler an den Migranten ist folglich höher als anderswo. Außerdem stehen hier viele Wohnungen leer, in denen man die Aussiedler aus dem fernen Osten billig unterbringen kann. Viele „Urbewohner“, die es sich leisten konnten, sind seit der Wende weggezogen. Hellersdorf gilt heute nicht mehr als Vorzeigeadresse, ist es doch die größte Plattenbausiedlung Europas. Endlose Häuserblocks reihen sich aneinander, eine gewachsene Infrastruktur mit Tante-Emma-Läden und gemütlichen Kneipen gibt es nicht, und bis zum Zentrum der Hauptstadt fährt man mit der U-Bahn fast eine Stunde.

Aussiedler, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind – und das sind bei ihrer Ankunft fast alle –, können sich ihren ersten Wohnsitz nicht aussuchen, sie bekommen ihn zugewiesen. Ein entsprechendes Gesetz der Kohl-Regierung hat Rot-Grün Ende März verlängert – für die ersten drei Jahre bleiben Aussiedler an diesen zugewiesenen Ort gebunden. Sonst verlieren sie den Anspruch auf Knete vom Staat. Etwa 9.000 Menschen sind in den 90er-Jahren auf diese Weise nach Hellersdorf gekommen – 7 Prozent der 127.000 Einwohner.

Als Gerhard Philippsohn vor vier Jahren nach Hellersdorf kam, war er enttäuscht. So hatte er sich Deutschland nicht vorgestellt. In Kasachstan hatte er ein eigenes Haus auf dem Land und eine gute Arbeit als Kranführer. Nun ist er Frührentner und lebt in einer kleinen Wohnung in einem Plattenbau. Der 63-Jährige schwärmt noch heute von der Weite der kasachischen Steppe, von der Freiheit und den Wölfen, von den wilden Ziegen und den hoppelnden Hasen. Ausgereist ist er, weil nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der Nationalismus in Kasachstan immer aggressiver wurde und weil die meisten seiner Verwandten weggingen. In Kasachstan sah er für sich und seine Kinder keine Perspektive mehr. Trotzdem sagt er heute: „Besser wäre ich da geblieben.“

Gerhard Philippsohn ist kein Träumer: „Ich wusste, dass mir in Deutschland keine gebratenen Tauben in den Mund fliegen.“ Aber er glaubte, dass er eine Arbeit finden könnte im reichen Deutschland. Philippsohn hat sein Leben lang gearbeitet und Berufserfahrung als Dreher, Baggerfahrer und Kranführer gesammelt und in den kasachischen Kupferminen geschuftet. „Das Schlimmste ist, wenn man keinen Job hat, wenn man nicht nützlich ist.“ Nun bekommt er 1.240 Mark Rente und fühlt sich „wie ein Bettler, der ‚bitte, bitte‘ sagen muss. Das ist eine Schande.“

Umso wichtiger ist es für Philippsohn, dass Hans-Harald Müller von der Beratungsstelle „Pro Migrant“, ihm eine Gelegenheit gegeben hat, sich nützlich zu machen – in der „SoKo 14“. Das ist eine Sonderkommission des Hellersdorfer Sozialamts, in der neun Männer und Frauen ehrenamtlich Migranten betreuen. Die meisten von ihnen sind selbst erst in den letzten Jahren nach Hellersdorf gekommen und können sich in die Probleme der Neuankömmlinge hineinversetzen. Philippsohn begleitet sie zu Ämtern, zu Ärzten und bei der Wohnungssuche. Weil er Deutsch, Russisch und Kasachisch spricht, ist er als Übersetzer gefragt.

In den schlechten Sprachkenntnissen vieler Aussiedler und ihrer Angehörigen sieht „Pro Migrant“-Chef Müller nach wie vor das größte Problem. „Da müsste die Politik viel mehr tun.“ Es ist ihm unbegreiflich,dass die Regierung die Mittel für Sprachkurse gekürzt hat. „Es müsste viel mehr Sprachkurse geben.“ Nur so könnten Migranten ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Dass hier Bedarf besteht, steht außer Zweifel. Rund 100.000 Aussiedler sind arbeitslos – und keineswegs nur ältere Menschen wie Philippsohn.

Die Sprachprobleme derjenigen, die immerhin die Einreisehürde überwunden haben, können die Integrationsteams vor Ort nicht auffangen. „Wir können das nicht leisten“, sagt Müller.

Was er und sein Team leisten, ist Hilfe zur Selbsthilfe. Das Engagement von Philippsohn und den anderen Mitgliedern der „SoKo 14“ sei vorbildlich und entlaste auch sein Dreimannteam, das bei über 7.000 Anfragen im Jahr sonst hoffnungslos überfordert wäre. „Aber das kann doch nicht die Lösung sein“, sagt Müller. „Diese ehrenamtliche Arbeit ist wichtig und schön, aber viel zu wenig.“